»Demokratie ist nicht in Stein gemeißelt«
Die deutsche Ministerin für Verteidigung, Ursula von der Leyen, über Donald Trump, den Irrglauben der Rechtspopulisten und den »Systemwettbewerb« mit Russland.
Sie sind seit Dezember 2013 deutsche Verteidigungsministerin. Wie nehmen Sie diese Zeit des geopolitischen Umbruchs wahr? Ursula von der Leyen: 2014 erlebte die Welt eine tiefe Zäsur. Es begann mit dem veränderten Verhalten Russlands, mit der Annexion der Krim und dem schweren Bruch des Völkerrechts. Drei Monate später, im Juni, rief der IS ein Kalifat aus; einen beklemmenderen Ausdruck hätte der nahöstliche Flächenbrand im Irak und in Syrien kaum finden können. Zugleich Destabilisierung in Afrika und weltweite Migrationsbewegungen. Das machte uns deutlich, dass wir sowohl mehr Verantwortung in der unmittelbaren Nachbarschaft Europas – in Afrika sowie im Nahen und Mittleren Osten – übernehmen als auch auch unsere Landes- und Bündnisverteidigung modernisieren müssen. Die Bundeswehr hat ihren Etat kräftig erhöht. Half Ihnen dabei letztlich auch die insistierende Aufforderung von US-Präsident Trump an die Nato-Verbündeten, die Militärausgaben aufzustocken? Nein. Die Nato-Staaten trafen die Vereinbarung, zwei Prozent des BIPs für Verteidigung auszugeben, schon mit seinem Vorgänger, Obama, im Lichte des geopolitischen Einschnitts 2014. Die Bundeswehr braucht diese Investitionen schon aus eigenem Interesse. Die Soldaten, die wir in Einsätze schicken, müssen modern ausgerüstet sein. Sehen Sie Russland als Gefahr für Europa? Wir möchten gern ein besseres Verhältnis zu Russland. Aber dazu gehören zwei. Die Annexion der Krim markiert einen Bruch: Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg wurde in Europa wieder mit Gewalt eine Grenze verschoben. In der Ostukraine sterben bis heute Menschen. Wir sehen immer wieder Cyberattacken auf westliche Demokratien. Aber es gibt auch Felder, in denen wir Interessen mit Russland teilen. Deshalb ist es wichtig, aus einer klaren Position der Stärke heraus mit Russland im Dialog zu bleiben. Dabei müssen wir Europäer die offene und freie Gesellschaft verteidigen. Wir befinden uns auch in einem Systemwettbewerb. Russland steht für eine eher autokratische und geschlossene Gesellschaft. Ich bin überzeugt, dass die Idee der offenen Gesellschaft, die bürgerliche Freiheiten schützt, auf Dauer obsiegen wird. Moskau pflegt enge Kontakte zu rechtspopulistischen und EU-kritischen Parteien, die nun in Italien oder Österreich auch an der Macht sind. Haben Sie den Eindruck, dass Russland die EU spalten will? Es ist existenziell notwendig, dass wir uns als Europäer einig und entschlossen zeigen. Was uns verbindet, sind Werte, die wir teilen: Freiheit, freie Meinung, Rechtsstaat, Demokratie. Schwächt Europa, sei es in Polen, sei es in Ungarn, diese Werte nicht auch von innen? Die Kraft der Demokratie besteht darin, dass sie Opposition und andere Meinungen aushält. Autokratien halten das nicht aus: Sie verhaften Oppositionsführer und unterdrücken abweichende Meinungen. Deshalb appelliere ich an alle Demokraten, in den Wettbewerb um die besten Ideen einzutreten. Anders gefragt: Sehen Sie, wenn Ihr Blick nach Mittelosteuropa schweift, akuten Anlass für besondere Wachsamkeit? Wir sollten nicht eine ganze Region über einen Kamm scheren, aber die Verfechter der offenen Gesellschaft sind gefordert, sich mit guten Argumenten einzubringen. Mein Vater ist 1930 geboren und hat als 15-Jähriger das Grauen des Weltkriegs in Europa erlebt. Die Generation meines Vaters hat dieses wunderbare Europa aufgebaut. Die Aufgabe unserer Generation ist es, dieses Europa in der globalisierten Welt wieder zu begründen. Wie wollen Sie das machen? Indem ich die großen Errungenschaften der Freiheit hervorstreiche und deutlich mache, was es bedeutet, wenn wir sie verlieren. Die Demokratie ist, wie die jetzige Zeit zeigt, nicht in Stein gemeißelt. Sie kann uns jederzeit abhandenkommen, wenn wir nicht für sie kämpfen. Und daneben müssen wir ganz pragmatisch immer wieder die Vorteile des europäischen Werte- und Wirtschaftsmodells hervorheben. Auch unsere Enkel sollen weiter frei reisen, Handel treiben und forschen können. Sie haben Russland erwähnt, den Nahen Osten, die Migrationskrise, nur einen haben Sie ausgelassen: Stellt nicht auch die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten eine Herausforderung für Europa dar? Ich bin tief überzeugt, dass unsere transatlantische Partnerschaft, die schon fast 70 Jahre währt, ein starkes Fundament hat aus millionenfachen Freundschaften, wirtschaftlichen Beziehungen, wissenschaftlichem Austausch und dem Verständnis, wofür wir gemeinsam einstehen. Dass der US-Präsident und seine Art eine gewisse Herausforderung für uns darstellen, ist keine Frage. Aber ich glaube, dass das transatlantische Band fest und stabil genug ist, die Twitterpolitik auszuhalten. Sie meinen, ein Mann allein kann diese Partnerschaft nicht kaputt machen, selbst wenn er im Weißen Haus sitzt. Der US-Präsident ist gewählt, und das verdient unsere Achtung, aber wir betrauern gerade US-Senator John Mc-
1958
Ursula von der Leyen wird in Brüssel geboren. Ihr Vater, Ernst Albrecht, war von 1976 bis 1990 CDU-Ministerpräsident von Niedersachsen. Seit 1986 ist die Ärztin mit Medizinprofessor Heiko von der Leyen verheiratet. Mit ihm hat sie sieben Kinder.
2003
Von der Leyen wird Sozialministerin in Niedersachsen unter Ministerpräsident Wulff. Zwei Jahre später wird sie Familienministerin unter Kanzlerin Merkel. 2009 übernimmt sie das Sozialressort. Seit Dezember 2013 ist sie Verteidigungsministerin. Cain. Er zeichnete sich dadurch aus, dass er seine politischen Gegner, wie zum Beispiel Obama, immer mit Respekt behandelt hat. Und er hat eine ganze Generation amerikanischer Politiker geprägt, die weiter sehr zur transatlantischen Freundschaft steht. Wir dürfen sie nicht im Stich lassen. Sie haben Trump neulich beim Nato-Gipfel erlebt. Haben Sie das Gefühl, dass er Argumenten zugänglich ist? Wir haben beim Nato-Gipfel beides erlebt: das widersprüchliche Verhalten des US-Präsidenten und die Einigung auf ein starkes Ergebnis. Trump hat seine Herangehensweise an Politik: für Unruhe sorgen, Vertrautes infrage stellen, um dann in Verhandlungen einen vermeintlichen politischen Vorteil herauszuholen. Wenn man sich darauf einstellt und sich nicht darauf einlässt, kann man gut damit umgehen. Was ist Ihre Antwort auf Trumps „America first“, bei dem es stets nur um den Vorteil der USA geht? Die Antwort muss sein: „Europa gemeinsam“. Die rechtspopulistischen Bewegungen basieren auf dem Irrglauben, das Land abschotten und gleichzeitig den Wohlstand sichern zu können, der auf Austausch und internationalen Wirtschaftsbeziehungen beruht. Beides geht aber nicht. Es gibt nur das eine oder das andere. Vor dem BrexitReferendum haben die Rechtspopulisten die Abschottung der Insel als einen Weg gepriesen, damit es allen besser geht. Jetzt zeichnen die Ökonomen ein düsteres Bild, sehen wir die Folgen. Es darf nicht darum gehen, das Trennende in der Welt herauszustellen, sondern darum, gemeinsam mit Verbündeten die globalen Probleme anzugehen. Halten Sie Europa für lösungsstark genug? Ein Faktor beim Brexit-Referendum war, dass zur gleichen Zeit die EU die Flüchtlingskrise nicht in den Griff bekam. Die Brexit-Entscheidung haben die Briten schon selbst getroffen. Und hat sie ihnen Vorteile gebracht? Die Migrationskrise konnte nur stattfinden, weil wir Europäer die Abkommen von Schengen und Dublin so eingeführt haben, dass wir die positiven Seiten gefeiert – die freie Beweglichkeit ohne Grenzen – , aber die schwierigen Seiten verdrängt haben, nämlich die Fragen: Wie halten wir es mit dem Grundrecht auf Asyl? Wer schützt wie die Außengrenzen? Wie verteilen wir Menschen, die berechtigt Asyl bekommen? Und wie klären wir, dass Migranten, die nicht zu uns kommen dürfen, wieder in ihre Heimat zurückkehren? Durch die Krise müssen wir das jetzt unter Schmerzen und mit Mühen nachholen. Der Krieg in Syrien geht in die letzte Phase. Mir wäre nicht aufgefallen, dass Europa ein entscheidendes Wort bei der Nachkriegsordnung mitzureden hätte. Russland erfährt gerade, dass sich auf einer militärischen Lösung allein keine Zukunft bauen lässt. Wenn es ein Format gibt, in dem eine Lösung für Syrien gefunden werden kann, dann sind das die von der UNO geführten Genfer Gespräche. Und da bringen sich die Europäer ein. Den Ton geben andere an: Russland, der Iran, mit Abstrichen die USA. Für Europa ist die Rolle des Zahlmeisters vorgesehen. Der Wiederaufbau Syriens wird enorme Investitionen brauchen. Russland ist trotz einer schwachen Wirtschaft auf vielen Feldern unterwegs: von der Ukraine bis in den Nahen Osten. Der Krieg, den Russland in Syrien führt, ist enorm teuer. Russland hat ein hohes Interesse, die Europäer und andere Länder für den Wiederaufbau in Syrien zu gewinnen. Das versetzt uns in die Lage, Rechtsstaatlichkeit und Versöhnung in Syrien zur Bedingung zu machen. Stand das auch im Zentrum der Gespräche, die Putin neulich mit Merkel führte? Da war ich nicht anwesend.