Wenn das Bein zur Last wird
Wellige Haut, blaue Flecken, Schmerzen, Übergewicht: Jede zehnte Frau leidet an einem Lipödem. Trotz Diät und Sport ufert das Gewebe an Beinen und Armen aus – mit ihm wachsen Frust und Schamgefühl. Oft hilft nur noch die Chirurgie.
Mir hat noch nie ein Winterstiefel gepasst“, sagt Mareike und blickt an sich hinab. Ihre Handflächen liegen auf ihren Oberschenkeln, die üppiger sind, als sie sein sollten. „Ich mache mehrmals die Woche Sport, esse gesund – und das seit Jahren“, sagt die 25-Jährige, die ihren richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte. „Alles, was ich dafür bekomme, sind abwertende Blicke und ein , Jammere nicht, sei disziplinierter‘.“Dabei hat die wellige Haut, die über dem knotigen Gewebe liegt, nichts mit Trägheit zu tun, sondern mit dem Lymphsystem der Deutsch-Wagramerin – oder den Genen. So genau wissen es die Mediziner nicht. Fest steht nur: Es handelt sich um ein Lipödem, eine krankhafte Vermehrung von Fettgewebe. Schätzungen zufolge leidet jede zehnte Frau daran – die meisten, ohne es zu wissen.
„Warum ein Lipödem entsteht, ist bis heute ein Rätsel“, bestätigt Klaus Schrögendorfer, Facharzt für Plastische, Ästhetische und Rekonstruktive Chirurgie. In manchen Familien komme es gehäuft vor, in anderen nicht oder nur einmal. „Wir haben ein komplett inhomogenes Bild“, sagt der Wiener Mediziner. „Daher vermuten wir, dass die Erkrankung mit den weiblichen Hormonen zusammenhängt – ich habe noch nie einen betroffenen Mann gesehen.“
Eines aber ist allen Lipödemen gemein: Sie sind symmetrisch: Beide Oberschenkel sind betroffen, fallweise auch beide Unterschenkel oder beide Ober- und (sehr selten) die Unterarme. Oben 36, unten 44. Wann es auftritt, ist ebenfalls unterschiedlich: Die meisten Betroffenen bemerken mit dem Beginn der Pubertät, dass die Beine fester werden, der Oberkörper nicht. „Ich trug oben Kleidergröße 36, unten eine 44“, erzählt Mareike. „Wenn ich abgenommen habe, dann nur am Bauch und an der Brust – meine zwei Körperhälften passten nicht zueinander.“
Andere sprechen von körperlichen Veränderungen ab der Einnahme der Pille, mit einer Schwangerschaft oder dem Eintritt in die Wechseljahre. „Sobald das Lipödem auftritt, bleibt es – ohne operativen Eingriff – ein Leben lang“, sagt Schrögendorfer. Allerdings kann sich die Intensität verändern. So bei Erika: „Ob es mit der Pille oder der Pubertät begann, kann ich nicht sagen, jedenfalls wurden die Beine immer dicker.“Dazu mengten sich Blutergüsse: Bei kleinsten Berührungen färbte sich die Haut der heute 41-Jährigen blau. Ständige Schmerzen. Symptom Nummer drei: eine ausgeprägte Schmerzempfindlichkeit. „Man konnte mich kaum angreifen, ohne dass ich litt“, schildert die Niederösterreicherin. „Der Turnunterricht war mühsam, doch ich kämpfte mich durch. Ich wusste ja nicht, dass ich krank bin.“Auch privat ging es, den permanenten Schmerzen zum Trotz (die Medizin spricht vom „Ruheschmerz“, also Beschwerden auch bei Nichtbelastung), weiter zu Sightseeingtouren und Wanderungen auf den Berg. „Eine Ganztagestour war das Maximum, danach konnte ich die Beine stundenlang nicht mehr heben“, erinnert sie sich.
Mit den Jahren betraf das Lipödem auch Erikas Oberarme. Sie wurden dicker, fühlten sich knotig an und wurden schmerzempfindlicher. In ihrem Umfeld traf sie dafür auf wenig Verständnis. „Mein Mann meinte, ich solle nicht so wehleidig sein“, ärgert sie sich. Mit der Schwangerschaft der Angestellten im Jahr 2013 verschlimmerten sich die Beschwerden drastisch: „Ich konnte nicht mehr sitzen, hatte das Gefühl, dass es mir jeden Moment die Beine zerreißt.“Immer noch stellten die Ärzte keine entsprechende Diagnose. „Erst eine Arbeitskollegin las in einer Zeitschrift über das Lipödem und zeigte mir den Artikel mit den Worten: ,Das bist du‘.“
Beim Lipödem werden drei Stadien unterschieden: „In der ersten Phase beginnt das Gewebe am Oberschenkel anzuwachsen, in Phase zwei ist eine deutliche Fettgewebsvermehrung sichtbar“, zählt Schrögendorfer auf. „Hier kann das Lymphsystem noch kompensieren, also das Volumen etwas im Zaum halten.“Wie lang, ist individuell. „Viele erreichen irgendwann Phase drei: Die Fettgewebsmassen werden so groß, dass sie teils über die Kniescheibe oder den Ellenbogen hängen“, erläutert Schrögendorfer. Die Mobilität der Patientinnen wird immer stärker eingeschränkt – ebenso die Bereitschaft, außer Haus zu gehen.
„Ich ging binnen eines Jahres wie ein Germteig auf, brachte zehn Kilo- gramm mehr auf die Waage“, erinnert sich Andrea. Mit zunehmendem Gewicht schwand das Selbstbewusstsein der früheren Krankenpflegerin. „Röcke trage ich nicht mehr, in einem öffentlichen Bad oder auf Urlaub war ich ewig nicht, und einkaufen gehe ich ungern“, sagt die 50-Jährige. Denn: „Bei jedem Packerl, das man in den Einkaufswagen legt, spürt man die Blicke der anderen Kunden: ,Schau dir die an‘.“ Fettabsaugung als Ausweg. „Viele Patientinnen haben eine elende Odyssee hinter sich und wissen trotzdem bis zuletzt nicht, dass sie an einem Lipödem leiden“, sagt der plastische Chirurg Johannes Matiasek. Das Problem: Es gibt nichts pathologisch Auffälliges. Die Frauen weisen in der Regel normale Blutfettwerte auf, die Leber ist in Ordnung, die Sportlichkeit gegeben.
Wird schließlich doch die richtige Diagnose gestellt, lauten die nächsten Schritte: Kompressionswäsche und Lymphdrainagen. „Hinter dem Lipödem verbirgt sich zum einen eine pathologische Fettgewebsvermehrung, zum anderen eine vermehrte Flüssigkeitsansammlung im Gewebe“, so Matiasek. „Die Flüssigkeit kann durch das Lymphsystem nicht ausreichend abtransportiert werden, sie staut sich.“Abhilfe schaffen kann die Liposuktion, die lymphgefäßschonende Fettabsaugung.
»Mir hat noch nie ein Winterstiefel gepasst – trotz Sport und gesundem Essen.«
„Je nach Ausprägung können mehrere Operationen notwendig sein, da innerhalb einer Sitzung nicht unendlich viel Gewebe abgesaugt werden kann“, meint der stellvertretende Leiter der Plastischen Chirurgie im Wiener St.-Josef-Krankenhaus. In der Regel handelt es sich um vier bis acht Liter, in Ausnahmefällen um bis zu zehn. „Mit der Menge steigt das Risiko für Infekte, Thrombosen, Embolien (Verstopfung eines Blutgefäßes, Anm.) an“, warnt Matiasek.
Daher plädiert er – nach eingehender Abklärung, Vermessung, Dokumentation und, in schweren Fällen, einem Ansuchen um Kostenbewilligung bei der Krankenkasse (privat kostet eine Operation rasch mehrere Tausend Euro) –, für einen Eingriff un-