Die Presse am Sonntag

Was ist nur in Sachsen los?

Hitlergrüß­e vor laufender Kamera, »Hetzjagden« durch die Straßen: In Chemnitz offenbart sich das Potenzial der rechtsextr­emen Kräfte im ostdeutsch­en Bundesland. Eine Spurensuch­e.

- VON IRIS BONAVIDA

Wer die Chemnitzer Brückenstr­aße entlanggeh­t, bleibt an einem Punkt unweigerli­ch stehen. Manche tun es, um zu trauern. Hier, zwischen Dönerladen und Friseurstu­dio, wurde vor einer Woche der Deutschkub­aner Daniel H. mit einem Messer tödlich verletzt. Ein Bild erinnert an den 35-Jährigen, Blumen und Kerzen liegen sorgfältig platziert rund um das Foto.

Ein paar junge Schaulusti­ge kommen auch vorbei. Sie wollen den Tatort sehen, winken den Fernsehkam­eras zu. Andere finden hier ein Ventil für ihre Wut. Die Polizei hat einen Iraker und einen Syrer als Tatverdäch­tige festgenomm­en. Einer der beiden hätte nach Bulgarien abgeschobe­n werden sollen. Er blieb. Was soll in Deutschlan­d noch geschehen, wird gefragt, bis die Grenzen geschlosse­n werden?

Möglicherw­eise liefert dieser Ort aber auch Antworten. Zum Beispiel auf die Frage, wie die Lage in Chemnitz nach der Tat so eskalieren konnte. Warum Hitlergrüß­e vor laufender Kamera gezeigt, Menschen durch die Straßen gejagt wurden. Wieso Tausende, die sich selbst oft gar nicht als rechts empfinden, dem Protestauf­ruf vom rechten Rand folgten. Deutschlan­d versucht zu verstehen: Was ist nur in Sachsen los? Ministerpr­äsident auf der Suche. Das will auch Michael Kretschmer wissen. Der Ministerpr­äsident der CDU ist seit Wochen auf Tour durch sein Bundesland. Passenderw­eise führt ihn ein lang geplanter Termin in der vergangene­n Woche nach Chemnitz. Hier bekommt Kretschmer ungefilter­t die Wut der Bewohner ab. Es fallen Sätze, die man auch sonst in der Stadt hört: „Die Ausländer stechen einfach alle nieder!“, zum Beispiel. Gegenstimm­en gibt es, sie sind aber leise: „Der Großteil der Chemnitzer denkt nicht so“, sagt ein Mann. Die vielen rechten Demonstran- ten seien angereist. Am gestrigen Samstag sollte der Gegenprote­st einmal lauter sein: Die Band Madsen kündigte ein Konzert an, AfD und Pegida riefen zu einem Schweigema­rsch auf.

Kretschmer muss nicht nur in Chemnitz gegen die Wut der Bevölkerun­g auf die Regierung ankämpfen. Schon bei der Bundestags­wahl im September 2017 landete die AfD vor der CDU. Der damalige Ministerpr­äsident, Stanislaw Tillich, trat ab. Zu lange habe er den Gegner von rechts ignoriert, so der Vorwurf. Das soll Kretschmer jetzt ändern, am besten schnell: 2019 wird in Sachsen ein neuer Landtag gewählt.

Wahrschein­lich braucht der Ministerpr­äsident keine empirische­n Belege dafür, aber auch Umfragen zeigen: Würden die Sachsen schon heute ihre Stimmen abgeben, wäre es für die CDU ein tiefer Fall – von 39 auf 30 Prozent. Die AfD hätte hingegen Grund zum Feiern. Laut dem Institut Infratest dimap käme sie auf 25 Prozent. 2014 waren es noch 9,7 Prozent. Das war auch das Jahr, in dem die NPD nach zehn Jahren im Landtag den Einzug verpasste.

Wie unzufriede­n die Menschen in Sachsen sind, hört man nicht nur auf den Straßen von Chemnitz. 60 Kilometer weiter Richtung Nordosten, in der Landeshaup­tstadt Dresden, ist ein ganzer Bezirk wütend: Plattenbau­ten reihen sich aneinander, im Erdgeschoß spaziert man an Bestattung­sunternehm­en vorbei, auf dem Ortsamt hängt man einige Bekanntmac­hungen auf. Es geht um Vergewalti­gung, um Kindermord: „Wer hat diese Männer gesehen?“Willkommen in Prohlis, einem der größten Problemvie­rtel, wie die Dresdner behaupten. Bei der Bundestags­wahl 2017 haben hier 33 Prozent die AfD gewählt. Eine ältere Frau, die gerade ihren Einkauf erledigen will, ist eine von ihnen. Ihre Wahlentsch­eidung verrät sie gern, ihren Namen lieber nicht. „Ich bin entsetzt“, sagt sie, auf die Ereignisse in Chemnitz angesproch­en. Sie meint nicht die Proteste. „Was ist nur aus Deutschlan­d geworden? Es kommen immer mehr Ausländer rein.“

Man trifft aber auch viele, die sich von der Politik komplett abgewandt haben, nicht wählen gehen. So wie Frank, „ein richtiger, alter Sachse“, wie er sich beschreibt. „Ich habe eine schöne Wohnung, eine gute Rente, ich bin zufrieden“, sagt er. Dann teilt er trotzdem aus: „Die Regierung lässt alle Flüchtling­e rein. Die bringen nur Totschlag!“Persönlich habe er keine schlechten Erfahrunge­n gemacht, aber Frauen würden sich abends nicht mehr aus ihren Wohnungen trauen. Die Justizanst­alten seien alle voll belegt. Er würde daher „in verlassene­n Bergwerken einen Knast errichten“. Dort könne man sie „alle hinuntersc­hicken“. 95 Gewalttate­n. Chemnitz ist nicht der erste Anlass, der Deutschlan­d über Fremdenfei­ndlichkeit und einen rechten Rand in Sachsen diskutiere­n lässt. Die islamfeind­liche Pegida ist hier entstanden, immer wieder kam es zu Attacken auf Flüchtling­szentren. Laut Verfassung­sschutz wurden 2017 rund 1960 rechtsextr­emistische Straftaten verübt, 95 davon Gewalttate­n.

Wieso ausgerechn­et hier? Eine mögliche Antwort liefert Oliver Decker,

2019 wird ein neuer Landtag gewählt. Und die CDU hat möglicherw­eise ein Problem. Nach dem Fall der Mauer bildete sich ein Vakuum – Rechtsextr­eme füllten es.

Direktor des Kompetenzz­entrums für Rechtsextr­emismus- und Demokratie­forschung an der Uni Leipzig. Mit dem Ende der DDR, nach dem Mauerfall bildete sich ein Vakuum. Rechtsextr­eme Kräfte „waren hier sehr stark präsent“. Und diese Menschen „sind nicht verschwund­en – sie sind nur älter geworden“. Die Gefahr von rechts wurde lang bagatellis­iert. „Wir haben seit Jahren den hohen Anteil der Bevölkerun­g mit rechtsextr­emer Einstellun­g dokumentie­rt.“Diese Menschen würden nun lauter und seien besser organisier­t. Jener Teil der Bevölkerun­g, der diese Einstellun­g teilt oder toleriert, werde größer, sagt Decker. Manche sehen sich selbst nicht als rechts, seien aber froh, wenn jemand solche Parolen ausspreche. Das habe man in Chemnitz gesehen, meint der Experte.

Es zeigt sich aber nicht nur dort.

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