Über Flucht schreiben – wie geht das? Und woran scheitert es oft?
Von Bestsellerautor Dave Eggers über Navid Kermani bis Jenny Erpenbeck – viele Autoren haben in den letzten Jahren über Flucht und Vertreibung geschrieben. Fehlt die zeitliche Distanz? Der Mut, poetisch einzugreifen? Jedenfalls bleiben viele Autoren hinte
In Dave Eggers’ Roman „Weit gegangen“trifft sich der aus dem Sudan geflüchtete Valentino mit einem Anwalt, der ihm helfen will, in den USA Fuß zu fassen. Valentino hat sich auf das Treffen penibel vorbereitet, zweimal sein weißes Hemd gebügelt, so sehr fürchtet er sich, einen schlechten Eindruck zu machen, doch dann nimmt ihm sein Gegenüber rasch die Scheu. Er möge ihm von seinem Leben erzählen, bittet er. Und das tut Valentino. Als das Treffen zu Ende ist, hat der Anwalt Tränen in den Augen. „Ich sah zu, wie er in sein Auto stieg, ein schönes Auto, schnittig und schwarz. Er setzte sich ans Lenkrad, legte die Hände in den Schoß und weinte. Ich sah seine Schultern beben, sah, wie er die Hände vors Gesicht hob.“
Valentino, behütet aufgewachsen in einem Dorf im Südsudan, hat erlebt, was so viele der „Lost Boys“erlebt haben: Massaker der Regierung, Massaker der Guerillas, bis vom Dorf nur mehr Brandspuren übrig waren. Die Familie? Tot, verschollen. Die Freunde? Auf dem Marsch nach Äthiopien gestorben, an Durst, an harmlosen Infektionen, in den Fängen eines Löwen. Und das war erst der Anfang. Es ist eine erschütternde Geschichte – und eine wahre. Das Buch von Dave Eggers basiert nämlich auf den Erinnerungen von Valentino Achak Deng. Wahre Geschichten. Es ist ein Buch, dem man viele Leser wünscht. Ein informatives Buch, das nichts idealisiert, auch nicht das Verhalten mancher Flüchtlinge in den USA, wo sie durch Neid aufeinander und Misstrauen gegenüber den ehrenamtlichen Helfern die Schließung einer Stiftung zu ihren Gunsten zu verantworten haben. Trotzdem liest man „Weit gegangen“eher aus Pflichtgefühl zu Ende. Zu weitschweifig ist es. Zu spröde. Es ist eben doch etwas anderes, ob man – wie der Anwalt aus dem Roman – die Geschichte direkt aus dem Mund des Geflüchteten hört. Oder übersetzt durch einen Autor, der sie in „Form“gebracht hat. Der es andererseits aber nicht gewagt hat, sie zu gestalten. Hat Eggers der „Wahrheit“seine künstlerische Freiheit geopfert?
Auch die wunderbare deutsche Autorin Jenny Erpenbeck, für schmale, atmosphärisch und erzählerisch dichte Romane bekannt, hat mit „Gehen, Ging, Gegangen“ein für ihre Verhältnisse eher schwächeres Buch vorgelegt. Es beruht auf präziser Recherche und eigener Anschauung, Erpenbeck hat selbst Flüchtlinge betreut, und viele Passagen berühren. Aber der Versuch, die Flüchtlingskrise mit der Krise eines emeritierten, gelangweilten Professors zu verknüpfen, scheitert.
Die Autorin hat den Roman 2015 fertiggestellt. Fehlte die zeitliche Distanz, waren die Eindrücke noch zu frisch? War sie selbst zu erschüttert von den Schicksalen der Menschen, die sie kennenlernte, um zu ihrem eigenen Ton zu finden? Zu sehr Partei in einer Situation, da jeder gefordert schien, Partei zu ergreifen? Oder war es wie bei Dave Eggers – zu viel Respekt? Ist es Anmaßung, sich in die Perspektive eines Flüchtlings zu begeben? Ein Schicksal zu „erfinden“? Aus einer rea- len Tragödie einen Roman zu machen? Kann man den Schrecken „verdichten“? Doch was kann Literatur sonst, wenn nicht eben dies? Der radikale Gegenentwurf zum vorsichtigen Versuch, einem Schicksal gerecht zu werden, obwohl auch diesem Buch eine wahre Geschichte zugrunde liegt: der heuer für den Deutschen Buchpreis nominierte Roman der 30-jährigen Schweizerin Gianna Molinari. In „Hier ist noch alles möglich“streunt ein Wolf durchs Fabriksgelände. Der Koch behauptet, er habe ihn gesehen, seither werden Gruben ausgehoben, Fallen gestellt, die Nachtwächterin soll ihn beobachten. Aus ihren Augen wird diese träumerisch-realistische Geschichte erzählt, sie hat sich für diesen Job beworben, weil hier „alles möglich“sei, wie sie meint, auch wenn oder gerade weil die Fabrik schon bessere Zeiten gesehen hat. Überall bröckelt der Putz, das Unkraut wuchert, Rost breitet sich aus. Und dann noch der Mann, der vom Himmel fiel! Eines Tages liegt er im Gras, mit seinen Jeans, seinem T-Shirt, einem Amulett und Geldscheinen der Republik Kamerun in der Hosentasche.
Nein, wir wissen nicht, wofür diese Fabrik steht, auch nicht, was dieser Wolf bedeutet, so simpel funktioniert dieser Roman nicht. Es ist ein Text, der über all diese Bilder eine Atmosphäre von Angst, Verbundenheit, Hoffnung und Melancholie schafft – und dabei nach dem Schicksal des Mannes fragt, der sich 2010 in einem Fahrwerk versteckt hatte und beim Landeanflug auf Zürich aus dem Flugzeug gefallen war. Sie habe gewusst, dass sie sich mit der dreisten, fröhlichen Sprache, für die sie bekannt geworden ist, nicht dem Thema Flucht nähern könne. Deshalb habe sie sich viel Zeit genommen, den richtigen Ton zu wählen, erklärte Olga Grjasnowa 2017 in einem Interview. Das Ergebnis ist ein Flüchtlingsroman, der fast protokollartig geraten ist. Aber vor dieser künstlerischen Nüchternheit wirkt das Schicksal der beiden Hauptfiguren noch verstörender: Hammoudi hat in Paris studiert, einen Vertrag als Chirurg in der Tasche. Doch dann darf er, als er nach Syrien zurückkehrt, um seinen Pass zu verlängern, nicht mehr ausreisen – wenig später flickt er unter Lebensgefahr die Gliedmaßen von Aufständischen zusammen. Amal studiert Schauspiel, bis sie sich den Protesten gegen Assad anschließt und ihr Leben aus den Fugen gerät. Da kann ihr auch der einflussreiche Vater nicht mehr helfen. Hammoudi und Amal müssen fliehen. So kurz ist also der Weg von der Pool-Party ins Flüchtlingsboot! Vielleicht hat Olga Grjasnowa deshalb