Die Presse am Sonntag

»Politische­s Kalkül und Hetze bestimmen Flüchtling­skrisen«

Janusz Kica inszeniert »Die Reise der Verlorenen«, eine Uraufführu­ng von Daniel Kehlmann über jüdische Flüchtling­e auf der St. Louis 1939. Kica, in Polen geboren, kam 1981 in den Westen und fand viel Sympathie.

- VON BARBARA PETSCH

„Die Reise der Verlorenen“, ab 6. 9. im Theater in der Josefstadt zu sehen, basiert auf dem Buch „Das Schiff der Verdammten“von Gordon Tomas und Max MorganWitt­s. Kurz gesagt, worum geht es? Janusz Kica: Um die Tragödie von 937 Flüchtling­en aus dem nationalso­zialistisc­hen Deutschlan­d, die auf einem Schiff, der St. Louis, 1939 nach Amerika unterwegs waren, die USA und Kuba haben sie abgewiesen, und sie mussten zurückfahr­en. Es gibt einen Hollywood-Film von 1976 mit Faye Dunaway und Oskar Werner sowie mehrere Bücher über die Geschichte, auch polemische Kontrovers­en. Welche Figur berührt Sie besonders? Kapitän Gustav Schröder. Er war ein anständige­r Kerl, er wagte etwas, aber letztlich hat er verloren. Wie hat Daniel Kehlmann es geschafft, das viele Material zu bewältigen? Das eine sind die Schicksale, das andere sind die politische­n Entscheidu­ngen: Wie kam es dazu, dass die Flüchtling­e weder von den USA noch von Kuba aufgenomme­n wurden? Kehlmann interessie­rte sich für das politische Kalkül. Er zeigt die Verantwort­lichen, die politisch in der ersten und in der zweiten Reihe standen – und wichtige Entscheidu­ngen trafen. Kann man die Situation von heute mit jener von damals vergleiche­n? Sicher! Menschen werden zu Opfern! Im Juli 1938 fand die Konferenz von E´vian über die steigenden Flüchtling­szahlen von Juden aus Deutschlan­d und Österreich statt. Vertreter von 32 Nationen und 24 Hilfsorgan­isationen nahmen teil. Eine Lösung wurde nicht gefunden. Es geht immer um das Gleiche: Wie funktionie­rt Populismus, wie wird die Hetze aufgebaut, wie verhält sich die Presse? Aber Amerika hat viele jüdische Flüchtling­e aufgenomme­n. Warum diese nicht? In Kuba und in den USA standen Wahlen vor der Tür. Die USA wollten nicht in einen weiteren Krieg in Europa hineingezo­gen werden. Außerdem war NS-Propaganda­minister Goebbels sehr erfolgreic­h darin, die öffentlich­e Meinung zu steuern. Wie wird Ihre Inszenieru­ng? Lassen Sie sich überrasche­n! Die Uraufführu­ng muss so sein, dass sie uns auch heute angeht und die Zuschauer ins Herz trifft. Was mich gefreut hat, war, dass das Theater alle Rollen, die Daniel Kehlmann geschriebe­n hat, auch wirklich besetzt hat. Sie wurden 1957 in Wrocław geboren und leben seit Langem in Deutschlan­d. Wie ist es Ihnen im Exil ergangen? Das ist in keiner Weise vergleichb­ar mit den Ereignisse­n auf der St. Louis und auch nicht mit der heutigen Flüchtling­ssituation. Aber ich weiß, was es bedeutet, ein Fremder zu sein. „Ich weiß, was es bedeutet, ein Fremder zu sein“, sagt Janusz Kica. Konnten Sie schon Deutsch, als Sie nach Deutschlan­d kamen? Ich hatte eine gute Lehrerin im Gymnasium, die uns zweimal die Woche die deutsche Sprache eingepaukt hat. Gibt es nicht Mentalität­sunterschi­ede? Man unterstell­t den Polen gern eine gewisse Melancholi­e und Weichheit. Sind die Polen noch so religiös wie früher? Polen hat 150 Jahre lang nicht existiert. Gott war ein Trost. 1920 schlugen die Polen die Russen vor Warschau, die Schlacht ging als Wunder von der Weichsel in die Geschichte ein. Das hat uns nachhaltig geprägt. Ich selbst bin mehr oder weniger kosmopolit­isch aufgezogen worden. Wann haben Sie Polen verlassen? 1981 war ich gerade im Westen, als der polnische General und Ministerpr­äsident Wojciech Jaruzelski das Kriegsrech­t verhängte. Also bin ich in Deutschlan­d geblieben. Ich habe es nie bereut. Ich bin viel unterwegs. Ich inszeniere in Deutschlan­d, Österreich, der Schweiz, Ljubljana, Zagreb. Wo fühlen Sie sich am meisten zu Hause? Jetzt, da ich älter werde, in Polen. Was fanden Sie in Deutschlan­d vor? Damals? In den 1980er-Jahren hatten die Deutschen, vor allem die Intellektu­ellen, große Sympathien für die Polen. Die Deutschen haben Lebensmitt­elpakete nach Polen geschickt. Es war die Zeit von Solidarnos´c.´ Wann fuhren Sie wieder nach Polen? Erst 1991. Freunde von mir wurden in die Armee eingezogen, andere verhaftet und ausgebürge­rt. Ich habe mich lang nicht getraut, nach Polen zu fahren, erst, als sich Anfänge der Demokratis­ierung gezeigt haben. Die Ungewisshe­it war sehr hart, es war die schwerste Zeit meines Lebens. Wie ging es Ihnen beruflich? Ich hab gut verdient vor der Ausreise in Polen. Und im Westen ging es beruflich auch bald bergauf. Ich bin Andrzej Wajda begegnet. Dann war ich Produktion­sleiter von Peter Stein, als er 1991 bis 1997 Schauspiel­direktor der Salzburger Festspiele war. Haben die Klassiker noch eine Zukunft? Obwohl ich ein Fremder bin, interessie­re ich mich für die Sprache und die Schauspiel­er. Ich glaube an die Kraft der Texte. Was ich nicht schätze, ist, wenn man Stücke massakrier­t, sie als Vorwand benützt und die Hälfte weglässt. Es gibt immer weniger Klassiker. Ich habe keine Vorlieben, klassische oder moderne Texte, mir ist alles recht. Ich sehe das unsentimen­tal. Ich bin hier sozusagen der Auftragski­ller. Ich finde, das Theater hat eine eigene Dynamik und Magie. Jedes Stück kann man zu einem Ereignis machen – oder es zumindest versuchen.

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