»Wir leben in einer Zeit der Rechthaberei«
Für sein Buch »Die Vereindeutigung der Welt« erhält der Islamwissenschaftler Thomas Bauer beim diesjährigen Philosophicum Lech den Essay-Preis Tractatus. Der Kapitalismus habe viel zum Verlust der Vielfalt beigetragen, sagt er. Und eine fundamentalistisch
Sie sind Arabist und Islamwissenschaftler. Wie kamen Sie dazu, ein Buch über den Verlust der Vielfalt zu schreiben? Thomas Bauer: In meiner Beschäftigung mit dem klassischen Islam habe ich immer mehr Widersprüche zwischen dem heutigen Islambild und dem, was mir in vierzigjähriger Lektüre klassisch arabischer Texte begegnet ist, gesehen. Welcher Islam ist Ihnen dabei begegnet? Ein Islam, der wesentlich vielfältiger war als der heutige. Damit meine ich sowohl den Islam, wie er in den islamkritischen Medien dargestellt wird, als auch den Islam, wie er von fundamentalistischen Gruppen tatsächlich praktiziert wird. Ich kenne einen Islam, in dem Koranverse ganz unterschiedliche Deutungen haben konnten. Und daneben existiert eine rein säkulare arabische Dichtung, die Themen wie Liebe, Erotik oder den Weingenuss behandelt. In keiner Sprache gibt es so viel künstlerische Weindichtung wie auf Arabisch und Persisch. Um diese offensichtliche Widersprüchlichkeit deuten zu können, verfiel ich auf das Konzept der Ambiguitätstoleranz. Was verstehen Sie unter Ambiguitätstoleranz? Die Fähigkeit, Widersprüchliches, Vages und Uneindeutiges auszuhalten und sogar zu schätzen. Die klassisch arabische Dichtung zeigt eine solche Liebe zur Mehrdeutigkeit, dass sie nur das Produkt bewussten Schaffens sein kann. Über Jahrhunderte hindurch müssen diese Menschen ein großes Vergnügen an Vielfalt gehabt haben. Gab es in Europa eine derartige Freude an der Vielfalt nicht? Zu bestimmten Zeiten, an bestimmten Orten wahrscheinlich schon, aber es gab immer wieder Brüche. Denken Sie an die Renaissance und die Reformation, die eng miteinander zusammenhängen. Die Renaissancepäpste haben es mit der Ambiguitätstoleranz wohl zu weit getrieben. Die Spannbreite zwischen religiösem Anspruch, weltlichem Machtstreben und Luxusleben war zu groß. Man hätte dann wie Erasmus von Rotterdam mit Reformvorschlägen kommen können. Stattdessen kam die Reformation. Der Ausspruch, der fälschlicherweise Martin Luther (1521 beim Reichstag zu Worms, Anm.) zugeschrieben wird, „Hier stehe ich nun. Ich kann nicht anders“charakterisiert die dahinterstehende Haltung sehr gut. Sie bedeutet das Ende jeder Ambiguitätstoleranz und Kompromissfähigkeit. Wovon hängt es ab, ob eine Gesellschaft Vielfalt und Mehrdeutigkeit zulässt? Das ist eine schwere Frage. Der Mensch ist von Natur aus dazu geneigt, zweideutige Situationen zu vermeiden, weil sie in ihm immer ambivalente Gefühle hervorrufen. Wenn er immer mehr Chancen bekommt, Ambivalenzen zu entgehen, wird er das tendenziell tun. Der Kapitalismus war diesbezüglich ein großer Sprung in Richtung Ambiguitätsintoleranz. Im Kapitalismus bekommt alles einen eindeutigen Wert auf viele Stellen hinter dem Komma. Auch immaterielle Güter wie Menschenleben oder Kunstwerke. Das wirkt sich auf die Psyche der Menschen aus. Inwiefern? Der Kapitalismus hat zwei wesentliche Rollen für uns. Die eine ist die des Kämpfers, der mit allen anderen Menschen konkurriert und sich durchsetzen will. Die andere ist die des Konsumenten. Beide Rollen erfordern ein sehr eindeutiges Verhalten. Jene Bereiche des Lebens, die da nicht hineinpas-
1961
wurde Thomas Bauer in Nürnberg geboren. Er studierte in Erlangen Islamwissenschaften und Germanistik.
Seit 2000
ist Bauer Professor für Islamwissenschaften und Arabistik an der Universität Münster. Seine Forschungen umfassen Themen der Kulturgeschichte und der historischen Anthropologie wie Liebe, Sexualität, Religion, Tod, Freiheit.
2013
erhielt er den Gottfried-LeibnizPreis.
Beim diesjährigen Philosophicum in Lech
im September wird er mit dem
Essay-Preis Tractatus 2018
„Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt“
für sein Buch ausgezeichnet. sen, wie soziales Engagement, Kunst, Musik, Dichtung werden dann stark an den Rand gedrückt. Deutschland hat sich früher einmal sehr über die Kunst definiert, heute definieren wir uns über unsere Wirtschaftsleistungen und schöne Autos. Wovon hängt es ab, ob sich die Fähigkeit, Gegensätzliches zu tolerieren, beim Einzelnen entwickelt. Von der Erziehung? Da es sich dabei um ein Phänomen der Mentalitätsgeschichte handelt, ist sie individuell nicht so einfach beeinflussbar. Und grenzenlose Ambiguitätstoleranz ist auch nicht gut, sie führt zur Wurschtigkeit und zur Korruption. Wir haben einmal an der Universität Münster einen Psychologietest zur Ambiguitätstoleranz gemacht. Wir Professoren haben da gar nicht so gut abgeschnitten. Wir sollten nämlich nicht endlos tolerant sein, denn in unserer Arbeit müssen wir recht eindeutige Ergebnisse erzielen, ohne zu behaupten, die letzte Wahrheit gefunden zu haben. Die Mitte zwischen zu viel und zu wenig zu bewahren ist die Kunst. Aber zurück zu Ihrer Frage: Als Individuum kann man jedenfalls eines tun – sich des Problems bewusst sein. Wenn wir wütend auf Kritik reagieren, sollten wir uns fragen, ob sie nicht vielleicht doch ihre Berechtigung hat. Und nicht immer nur recht haben wollen. Wir leben in einer Zeit der unglaublichen Rechthaberei aller. Jeder hat zu allem eine Meinung. Leider. Und Sie? Ich habe zu vielen Themen keine Meinung. Ich weiß von Themen, mit denen ich mich intensiv beschäftigt habe, wie komplex sie sind. Wenn mich jemand fragt, was ich über Präimplantationsdiagnostik denke, kann ich nur sagen: „Ich habe dazu keine Meinung. Und ich muss dazu auch keine haben.“Aber viele Leute fühlen sich heute geradezu zwanghaft dazu verpflichtet, jede Meldung in der Zeitung oder im Internet zu kommentieren, manchmal sogar auf beleidigende Art und Weise. Man muss nicht zu allem eine Meinung haben. Aber wo ist die Grenze zur Ignoranz? Wir können heute das beobachten, was der österreichische Kunsthistoriker Hans Sedlmayr (1896–1984) als „Verlust der Mitte“bezeichnet hat. Nehmen wir die Religion: Sie ist gerade dort stark, wo sie ideologisch verwertbar ist. Etwa politisch wie in Polen, wo man den Katholizismus immer als Abgrenzung zu den orthodoxen Russen und den deutschen Protestanten gesehen hat. Anders als bei den Tschechen, die eher unfreiwillig im Habsburgerreich Katholiken geworden sind und sich so nicht von anderen Ländern abgrenzen konnten. In so einer Situation verfällt man eher in Gleichgültigkeit. Nun gibt es aber viel dazwischen. Es gibt viele engagierte Christen, Juden und Muslime, die nicht fundamentalistisch denken, denen aber Religion auch nicht egal ist. Aber diese Gruppe wird zunehmend kleiner, das bestätigen alle Statistiken. Das ist in vielen gesellschaftlichen Bereichen der Fall. Ich halte das für ein Problem. Gleichgültigkeit ist demnach auch eine Form von (Ambiguitäts-)Intoleranz? Gleichgültigkeit ist das Wegdrängen von Dingen, mit denen man sich nicht auseinandersetzen will. Die Mitte zu suchen, beide Seiten kennend, ist anstrengend. Wenn mir der hohe Fleischkonsum in unseren Breiten bewusst ist, kann ich fundamentalistisch reagieren und zum Radikalveganer werden. Oder ich verdränge die Sache und esse jeden Tag Fleisch. Ich kann mich aber auch dafür entscheiden, weniger Fleisch zu . . . woher kam Ihr Interesse für die arabische Sprache und den Islam? Es fing damit an, dass ich als Kind Urwaldforscher werden wollte. Ich ging daher auf ein naturwissenschaftliches Gymnasium, in dem ich jedoch nicht viele Sprachen lernen konnte. Ich habe Italienisch gelernt, wollte mich dann aber noch mit einer ganz anderen Sprache befassen. Ich kaufte mir ein Arabischlehrbuch und war sofort fasziniert. Über die Sprache bin ich zur klassisch arabischen Literatur gekommen, die auf mich bis heute eine unglaubliche Faszination ausübt. Und dass man so ganz automatisch zur Religion des Islam kommt, ist unvermeidlich. . . . was genau hat Sie an der arabischen Sprache so fasziniert? Es ist eine schöne, eine komplexe Sprache, eine von unendlicher Vielfalt, bei der man ein Leben lang weiterlernen kann. Es ist eine der großen Kultursprachen der Menschheit. essen, und nur mehr solches von Rindern, die auf der Alm geweidet haben. Aber um so eine Mittelposition zu beziehen, muss ich mich mit der Problematik auseinandersetzen. Einfacher ist es zu sagen: „Mich interessiert das alles nicht.“Das ist kein Zeichen für Ambiguitätstoleranz. Aber wieso darf mir nicht auch dies und das gleichgültig sein? Selbstverständlich darf es das! Es wäre sogar viel besser, wenn uns mehr gleichgültig wäre. Es werden ja teilweise Themen hochgekocht, die für uns Menschen eher zweitrangig sind. Gleichzeitig sollte uns nicht wurscht sein, was von hoher menschlicher Relevanz ist: Religion, Politik, Umwelt oder soziale Probleme etwa. Wie verträgt sich der heute so populäre Begriff der Authentizität mit dem der Vielfalt? In der Gesellschaft wird „authentisch“im Sinn von „sich selbst verwirklichen“verwendet. Das setzt den Glauben voraus, dass in einem selbst „das wahre Ich“wohnt, von Kultur und Zwängen unverbildet. Und, dass wir nur dann authentisch sind, wenn wir dieses Ich ungefiltert nach außen stülpen. Aber wenn jemand gebildet und höflich ist, meinen viele, das sei nicht authentisch. Authentisch sei vielmehr, wie man mit seinen Kumpels beim Bier umgeht. Das ist jedoch die völlig unreflektierte Haltung des Konsumenten, der die soziale Natur des Menschen leugnet, der nur in Gesellschaft Mensch sein kann. Aber es gibt eine Tendenz, das abzutun, und der Begriff „Authentizität“dient dabei oft als Vorwand. Menschen haben nun einmal ganz unterschiedliche gesellschaftliche Rollen. Ich bin als Universitätsprofessor auch anders, als wenn ich mit Freunden nach der Arbeit etwas trinken gehe. Aber diese Ambiguität muss ich aushalten.