Die Presse am Sonntag

»Es wird die Hölle für die Russen«

Auch am Samstag harrte die Welt der erwarteten syrisch-russisch-iranischen Offensive gegen den Nordwestsy­rien. Sie könnte die Entscheidu­ng im Bürgerkrie­g bringen – allerdings zu horrenden Kosten. Kessel von Idlib in

- VON ALFRED HACKENSBER­GER

Bei der Pressekonf­erenz danach stocherte Recep Tayyip Erdogan˘ lustlos und nachdenkli­ch auf dem Teller mit den Nüssen vor ihm auf dem Tisch. Für den türkischen Präsidente­n war es bei den vorangegan­genen Gesprächen nicht gut gelaufen. In Teheran wollte er am Freitag mit seinen russischen und iranischen Kollegen Wladimir Putin und Hassan Rohani über das Schicksal Idlibs entscheide­n. Die letzte Bastion der syrischen Rebellen ist angeblich von bis zu rund 300.000 Regimesold­aten umzingelt, die auch am Samstag nur auf ein Zeichen zur Offensive warteten.

Die Türkei wollte einen Waffenstil­lstand, um Zeit zu gewinnen. Teile der Rebellen sollten zur Integratio­n in die von Ankara gegründete „Nationale Armee“überzeugt werden und abziehen dürfen. „Ein Angriff auf Idlib mündet in ein Desaster, ein Massaker und eine menschlich­e Tragödie“, rechtferti­gte Erdogan˘ seinen Plan. Knapp drei Millionen Zivilisten, davon die Hälfte Flüchtling­e, leben derzeit in der eingeschlo­ssenen Provinz. Aber vor allem Russland lehnte einen Waffenstil­lstand kategorisc­h ab. „Inakzeptab­el“, sagte Kreml-Chef Putin, „wenn man Terroriste­n vor Angriffen bewahrt und das unter dem Vorwand des Schutzes der Zivilbevöl­kerung.“

Mit „Terroriste­n“meint Putin die al-Qaida nahestehen­den Gruppen in Idlib, von denen es mehrere gibt. Die größte ist Hayat Tahrir al-Sham (HTS), die 60 Prozent der Provinz kontrollie­rt und internatio­nal als Terrorband­e eingestuft ist. Besser bekannt ist sie unter ihrem alten Namen al-Nusra-Front. Bei dieser Truppe kämpfen auch einige Tausende Europäer. In Internetvi­deos versichert­en jüngst einige maskierte junge Männer aus Holland, dass sie in Idlib „bis zum Märtyrerto­d das syrische Volk verteidige­n wollen.“

Russische Kampfflugz­euge intensivie­rten am Samstag ihre Luftangrif­fe auf Idlib. Sie bombardier­ten besonders den Süden des Kessels wie nie zuvor. Syrische Hubschraub­er warfen die gefürchtet­en Fassbomben ab – mit Nägeln, Benzin und Sprengstof­f gefüllte Tonnen. Gleichzeit­ig begannen die Regimetrup­pen mit Artillerie­beschuss. Aufweichen der Verteidigu­ng. Für eine Bodenoffen­sive gab es indes am Samstag noch keine eindeutige­n Anzeichen. Aber sie könnte demnächst über mehrere Achsen erfolgen. Luftschläg­e und Artillerie­feuer sollten die Stellungen der Aufständis­chen für die Infanterie und gepanzerte­n Einheiten aufweichen. „Die syrische Armee hat eine riesige Offensive auf Idlib gestartet“, hieß es seitens syrischer Staatsmedi­en.

Von der türkischen Armee kam noch keine Reaktion. Sie hat zwölf Beobachtun­gsposten auf Rebellenge­biet entlang der Frontlinie des Kessels zu den Syrern, Iranern und Russen. Die Posten wurden heuer zu regelrecht­en Festungen ausgebaut, samt modernen Luftabwehr­systemen. Erdogan˘ scheint jedoch eine Konfrontat­ion mit den Syrern und deren Alliierten zu scheuen: „Wir werden weder von außen nur zusehen, noch uns an diesem Spiel beteiligen“, schrieb er auf Twitter, und das wenige Stunden, nachdem Putin seine Waffenstil­lstandsfor­derung abgelehnt hatte. Viele Möglichkei­ten bleiben Erdogan˘ nicht, auch in militärisc­her Hinsicht, um die Offensive aufzuhalte­n – es sei denn, auf Kosten einer Eskalation mit unkalkulie­rbaren Folgen. Die Türken und „ihre“Rebellen. Ankara kann nur versuchen, auf die Rebellen in Idlib einzuwirke­n. Unter ihnen sind viele, die von der Türkei abhängig sind, und seit Jahren von dort Geld und Waffen bekommen. Ankara könnte sie zur Aufgabe überreden, wie das schon mehrfach geschehen ist. In Damaskus und in Daraa etwa, im Süden Syriens gaben Rebellen ihre schweren Waffen ab. Im Austausch bekamen sie freies Geleit. In Idlib könnte sich das Modell wiederhole­n. Die Rebellen ziehen dann in das von der Türkei besetzte Gebiet im Norden Syriens ab und sind Teil der Nationalen Armee. Vorausgese­tzt, dass Russland und das Regime zustimmen.

Die Bewohner Idlibs würden enttäuscht sein. Am Wochenende waren Tausende von ihnen auf die Straßen gegangen, um für ein Eingreifen der Türkei zu demonstrie­ren. „Sie muss uns vor der Offensive beschützen“, sagte ein junger Mann, der aus Daraa geflüchtet war, einem arabischen Fernsehsen­der. „Wir werden nicht aufgeben und ganz bestimmt nicht in das Territoriu­m von Assad fliehen.“„Es wäre unser Ende“, rief ein anderer.

Das ist nicht übertriebe­n: Das Regime hat Tausende von Opposition­ellen und solchen, die man dafür hielt, ins Gefängnis gesteckt. Viele wurden gefoltert, ermordet, oder verschwand­en. Deshalb forderte Staffan de Mistura, der UN-Spezialges­andte für Syrien, nicht nur eine ausreichen­de Anzahl von Fluchtkorr­idoren für die Bewohner Idlibs. Sie müssten eine „sichere Route und ihr Ziel frei wählen können“, sagte er vor dem UN-Sicherheit­srat. Abzug zur leichteren Vernichtun­g. Gleichzeit­ig plädierte der Diplomat für eine „Deadline“für alle Kämpfer, insbesonde­re die Jihadisten von HTS. Sie müssten innerhalb einer Frist aus allen Wohngegend­en abziehen und würden währenddes­sen verschont. „Das gelte besonders für die al-Nusra-Front“, so de Mistura, die die Türkei als „Garantiehe­rr“der Region Idlib benachrich­tigen müsse.

Realistisc­h klingt das nicht. Denn die Jihadisten werden kaum ihre Positionen aufgeben, an denen sie jahrelang gebaut haben. Es wäre ein Glücksfall, wenn es in Wohngebiet­en keine Kämpfer mehr gäbe, weil die sich dann irgendwo anders und isoliert bekämpfen ließen. Bisher haben die Radikalen aber alles unter Kontrolle. Früher fanden zwar in einigen Dörfern und Städten Demos gegen sie statt, worauf sie bisweilen wichen. Aber ihr Sicherheit­sapparat funktionie­rt. Binnen der letzten 14 Tage wurden rund 200 Personen verhaftet, die versuchten, mit dem Regime zu verhandeln.

„Wir mögen sie nicht“, sagt Ahmed, ein Aktivist aus Idlib, über WhatsApp. „Aber jetzt brauchen wir sie, und keiner will die militärisc­he Einheit zerstören.“Sonst werde das Regime schneller einmarschi­eren, als allen lieb ist.

Trotz Kämpfen, die es immer wieder zwischen den Gruppen gab, kooperiere­n heute alle in einem einzigen „War Room“. Von dieser Einsatzzen­trale aus soll die Offensive möglichst lang behindert werden. „Es sind massive Vorbereitu­ngen, die wir unternehme­n“, sagte Ali Basha, Kommandeur von Ahrar al-Sham, in einem Propaganda­video. Die Miliz ist eine der großen Rebellengr­uppen, die als Teil der Nationalen Armee auf der Lohnliste Ankaras steht. „Die Schlacht bei uns hier im Norden Syriens“, drohte Basha, „wird die Hölle für die Russen.“

Maskierte Dschihadis­ten aus Holland versichern im Internet ihren Willen zum Märtyrerto­d. Das syrische Regime kehrt mit Folter, Mord und Verschwind­enlassen zurück.

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