»Es wird die Hölle für die Russen«
Auch am Samstag harrte die Welt der erwarteten syrisch-russisch-iranischen Offensive gegen den Nordwestsyrien. Sie könnte die Entscheidung im Bürgerkrieg bringen – allerdings zu horrenden Kosten. Kessel von Idlib in
Bei der Pressekonferenz danach stocherte Recep Tayyip Erdogan˘ lustlos und nachdenklich auf dem Teller mit den Nüssen vor ihm auf dem Tisch. Für den türkischen Präsidenten war es bei den vorangegangenen Gesprächen nicht gut gelaufen. In Teheran wollte er am Freitag mit seinen russischen und iranischen Kollegen Wladimir Putin und Hassan Rohani über das Schicksal Idlibs entscheiden. Die letzte Bastion der syrischen Rebellen ist angeblich von bis zu rund 300.000 Regimesoldaten umzingelt, die auch am Samstag nur auf ein Zeichen zur Offensive warteten.
Die Türkei wollte einen Waffenstillstand, um Zeit zu gewinnen. Teile der Rebellen sollten zur Integration in die von Ankara gegründete „Nationale Armee“überzeugt werden und abziehen dürfen. „Ein Angriff auf Idlib mündet in ein Desaster, ein Massaker und eine menschliche Tragödie“, rechtfertigte Erdogan˘ seinen Plan. Knapp drei Millionen Zivilisten, davon die Hälfte Flüchtlinge, leben derzeit in der eingeschlossenen Provinz. Aber vor allem Russland lehnte einen Waffenstillstand kategorisch ab. „Inakzeptabel“, sagte Kreml-Chef Putin, „wenn man Terroristen vor Angriffen bewahrt und das unter dem Vorwand des Schutzes der Zivilbevölkerung.“
Mit „Terroristen“meint Putin die al-Qaida nahestehenden Gruppen in Idlib, von denen es mehrere gibt. Die größte ist Hayat Tahrir al-Sham (HTS), die 60 Prozent der Provinz kontrolliert und international als Terrorbande eingestuft ist. Besser bekannt ist sie unter ihrem alten Namen al-Nusra-Front. Bei dieser Truppe kämpfen auch einige Tausende Europäer. In Internetvideos versicherten jüngst einige maskierte junge Männer aus Holland, dass sie in Idlib „bis zum Märtyrertod das syrische Volk verteidigen wollen.“
Russische Kampfflugzeuge intensivierten am Samstag ihre Luftangriffe auf Idlib. Sie bombardierten besonders den Süden des Kessels wie nie zuvor. Syrische Hubschrauber warfen die gefürchteten Fassbomben ab – mit Nägeln, Benzin und Sprengstoff gefüllte Tonnen. Gleichzeitig begannen die Regimetruppen mit Artilleriebeschuss. Aufweichen der Verteidigung. Für eine Bodenoffensive gab es indes am Samstag noch keine eindeutigen Anzeichen. Aber sie könnte demnächst über mehrere Achsen erfolgen. Luftschläge und Artilleriefeuer sollten die Stellungen der Aufständischen für die Infanterie und gepanzerten Einheiten aufweichen. „Die syrische Armee hat eine riesige Offensive auf Idlib gestartet“, hieß es seitens syrischer Staatsmedien.
Von der türkischen Armee kam noch keine Reaktion. Sie hat zwölf Beobachtungsposten auf Rebellengebiet entlang der Frontlinie des Kessels zu den Syrern, Iranern und Russen. Die Posten wurden heuer zu regelrechten Festungen ausgebaut, samt modernen Luftabwehrsystemen. Erdogan˘ scheint jedoch eine Konfrontation mit den Syrern und deren Alliierten zu scheuen: „Wir werden weder von außen nur zusehen, noch uns an diesem Spiel beteiligen“, schrieb er auf Twitter, und das wenige Stunden, nachdem Putin seine Waffenstillstandsforderung abgelehnt hatte. Viele Möglichkeiten bleiben Erdogan˘ nicht, auch in militärischer Hinsicht, um die Offensive aufzuhalten – es sei denn, auf Kosten einer Eskalation mit unkalkulierbaren Folgen. Die Türken und „ihre“Rebellen. Ankara kann nur versuchen, auf die Rebellen in Idlib einzuwirken. Unter ihnen sind viele, die von der Türkei abhängig sind, und seit Jahren von dort Geld und Waffen bekommen. Ankara könnte sie zur Aufgabe überreden, wie das schon mehrfach geschehen ist. In Damaskus und in Daraa etwa, im Süden Syriens gaben Rebellen ihre schweren Waffen ab. Im Austausch bekamen sie freies Geleit. In Idlib könnte sich das Modell wiederholen. Die Rebellen ziehen dann in das von der Türkei besetzte Gebiet im Norden Syriens ab und sind Teil der Nationalen Armee. Vorausgesetzt, dass Russland und das Regime zustimmen.
Die Bewohner Idlibs würden enttäuscht sein. Am Wochenende waren Tausende von ihnen auf die Straßen gegangen, um für ein Eingreifen der Türkei zu demonstrieren. „Sie muss uns vor der Offensive beschützen“, sagte ein junger Mann, der aus Daraa geflüchtet war, einem arabischen Fernsehsender. „Wir werden nicht aufgeben und ganz bestimmt nicht in das Territorium von Assad fliehen.“„Es wäre unser Ende“, rief ein anderer.
Das ist nicht übertrieben: Das Regime hat Tausende von Oppositionellen und solchen, die man dafür hielt, ins Gefängnis gesteckt. Viele wurden gefoltert, ermordet, oder verschwanden. Deshalb forderte Staffan de Mistura, der UN-Spezialgesandte für Syrien, nicht nur eine ausreichende Anzahl von Fluchtkorridoren für die Bewohner Idlibs. Sie müssten eine „sichere Route und ihr Ziel frei wählen können“, sagte er vor dem UN-Sicherheitsrat. Abzug zur leichteren Vernichtung. Gleichzeitig plädierte der Diplomat für eine „Deadline“für alle Kämpfer, insbesondere die Jihadisten von HTS. Sie müssten innerhalb einer Frist aus allen Wohngegenden abziehen und würden währenddessen verschont. „Das gelte besonders für die al-Nusra-Front“, so de Mistura, die die Türkei als „Garantieherr“der Region Idlib benachrichtigen müsse.
Realistisch klingt das nicht. Denn die Jihadisten werden kaum ihre Positionen aufgeben, an denen sie jahrelang gebaut haben. Es wäre ein Glücksfall, wenn es in Wohngebieten keine Kämpfer mehr gäbe, weil die sich dann irgendwo anders und isoliert bekämpfen ließen. Bisher haben die Radikalen aber alles unter Kontrolle. Früher fanden zwar in einigen Dörfern und Städten Demos gegen sie statt, worauf sie bisweilen wichen. Aber ihr Sicherheitsapparat funktioniert. Binnen der letzten 14 Tage wurden rund 200 Personen verhaftet, die versuchten, mit dem Regime zu verhandeln.
„Wir mögen sie nicht“, sagt Ahmed, ein Aktivist aus Idlib, über WhatsApp. „Aber jetzt brauchen wir sie, und keiner will die militärische Einheit zerstören.“Sonst werde das Regime schneller einmarschieren, als allen lieb ist.
Trotz Kämpfen, die es immer wieder zwischen den Gruppen gab, kooperieren heute alle in einem einzigen „War Room“. Von dieser Einsatzzentrale aus soll die Offensive möglichst lang behindert werden. „Es sind massive Vorbereitungen, die wir unternehmen“, sagte Ali Basha, Kommandeur von Ahrar al-Sham, in einem Propagandavideo. Die Miliz ist eine der großen Rebellengruppen, die als Teil der Nationalen Armee auf der Lohnliste Ankaras steht. „Die Schlacht bei uns hier im Norden Syriens“, drohte Basha, „wird die Hölle für die Russen.“
Maskierte Dschihadisten aus Holland versichern im Internet ihren Willen zum Märtyrertod. Das syrische Regime kehrt mit Folter, Mord und Verschwindenlassen zurück.