Warum Ludwig nicht wählen will
In Wien wird über Neuwahlen spekuliert. Solange sich die Grünen nicht in die Luft sprengen, wäre es für die SPÖ ein hohes Risiko – für Türkis-Blau dagegen eine historische Chance.
Es ist die entscheidende Frage, vor der einst Christian Kern gestanden ist: Soll ich – oder soll ich nicht? Damals wurde in den historischen Räumen des Bundeskanzleramtes und der SPÖ-Zentrale nächtelang diskutiert, Szenarien wurden durchgespielt, Pläne entworfen. Im Zentrum stand immer eine Frage: Neuwahlen jetzt?
Kern, der als politischer Quereinsteiger unverbraucht, dazu nicht in das Hickhack der rot-schwarzen Bundesregierung unter Werner Faymann und Vizekanzler Reinhold Mitterlehner involviert war, hätte die ÖVP überraschen und als frischer Kandidat in Neuwahlen gehen können. Er entschied sich dagegen. Und bereut es dem Vernehmen nach bis heute.
In diesen Tagen wird Wiens Bürgermeister Michael Ludwig von Journalisten immer wieder die Kern-Frage gestellt: Neuwahlen jetzt?
Immerhin ähnelt das Szenario (auf den ersten Blick) dem damaligen von Kern: Ein angeschlagener, ungeliebter Koalitionspartner, der die Führungsfrage nicht geklärt hat – womit dieser im Wahlkampf keine Konkurrenz darstellt, aber dessen Stimmen auf dem Markt sind. Dazu kommen inhaltliche Auseinandersetzungen mit dem Koalitionspartner (Stichwort: Lobau-Tunnel, Ausweitung des Wien-Bonus auf den Sozialbereich). Und: Michael Ludwig ist als neuer Bürgermeister mit einem neuen Team samt Quereinsteigerin angetreten und könnte dieses Momentum nutzen, bevor es (wie bei Kern) vorbei ist. Deshalb fordert mancher Genosse die Sebastian-Kurz-Nummer. Also Neuwahlen, jetzt!
Aber Michael Ludwig ist nicht Christian Kern. Und der Wiener Bürgermeister, der kürzlich geheiratet hat, wiederholt auf Journalistenfragen zu Neuwahlen gebetsmühlenartig: „Ich bin als treuer Mensch bekannt – privat wie beruflich.“Erst am Donnerstag, als Ludwig mit Vizebürgermeisterin Maria Vassilakou (sie übergibt im Juni 2019 ihre Funktionen) die erste gemeinsame Regierungsklausur leitete, wiederholte er nochmals: Nach derzeitiger Sicht werde Rot-Grün durcharbeiten.
Was der Bürgermeister nicht erwähnte: Es hängt davon ab, wer Maria Vassilakou bei den Grünen nachfolgt. Mit ihrem früheren Büroleiter, dem jetzigen Gemeinderat Peter Kraus, wird Vassilakous Weg nahtlos weitergeführt. Und damit die Koalition. Auch unter Klubchef David Ellensohn, Vertreter des linken Flügels, würde die Koalition halten, so die Einschätzung in der SPÖ. Falls aber Sozialsprecherin Birgit Hebein kommt, „können wir uns auf Neuwahlen einstellen“, ist in SPÖKreisen zu hören. Hebein hat bereits (in der Vergangenheit) strengere Regeln bei der Wiener Mindestsicherung zu Fall gebracht, indem sie dies zur Koalitionsfrage erhob. Strengere Regeln im Sozialbereich, wie sie Ludwig angeregt hat, dürften unter Hebein das Ende von Rot-Grün besiegeln. In diesem Fall gelten Neuwahlen im ersten Quartal 2019 als wahrscheinlich. Allerdings versuchen SPÖ und Grüne, Neuwahlen um jeden Preis zu verhindern. Die Grünen, weil sie ihre Umfragewerte kennen – die durch interne Flügelkämpfe noch niedriger sind, als sie es nach dem Rauswurf aus dem Parlament ohnehin waren.
Die mangelnde Begeisterung Ludwigs für Neuwahlen dagegen wurzelt (auch) in einem „Presse“-Interview vom 18. August. Darin erklärte Wiens Neos-Klubchef Christoph Wiederkehr: Er überlege nach der Wien-Wahl 2020 mit Türkis-Blau einen unabhängigen Bürgermeister zu wählen. Das sei ihm lieber als ein SPÖ-Bürgermeister. Mehrheit gegen die SPÖ. Seit der NeosAussage schrillen bei der SPÖ, die gern auf Wiener Neustadt verweist, die Alarmglocken: Dort hatte die SPÖ bei der Gemeinderatswahl 2015 rund 40 Prozent erreicht, aber die absolute Mandatsmehrheit verloren – worauf nach 70 Jahren erstmals kein SPÖ-Bürgermeister in Wiener Neustadt regiert; es hatten sich alle anderen Parteien gegen die SPÖ zusammengeschlossen.
Wiens Grüne würden bei einem derartigen Szenario nicht mitspielen. Allerdings hat Rot-Grün laut Umfragen keine Mehrheit mehr, Türkis-Blau auch nicht. Damit würde die Neos entscheiden. „Es gibt eine Mehrheit gegen uns“, meint ein hochrangiger SPÖ-Funktionär: „So sollen wir in Wahlen gehen?“
Neuwahlen würden derzeit eine Mehrheit gegen einen SPÖ-Bürgermeister bringen. Die FPÖ-Sozialministerin lässt kaum ein Fettnäpfchen aus – wovon die SPÖ profitiert.
Dazu kommt ein zweiter Punkt, wie im linken SPÖ-Flügel zu hören ist: „Es ist zu früh. Die Grauslichkeiten der Bundesregierung sind bei den Menschen noch nicht angekommen.“Anders formuliert: Die türkis-blaue Bundesregierung hat (zu) gute Umfragewerte. Schmerzhafte Reformen werden später aber nicht zu vermeiden sein, weshalb Türkis-Blau das Zeitfenster bis dahin nutzen will. Deshalb fordert der nicht amtsführende Wiener ÖVP-Stadtrat Markus Wölbitsch sofortige Neuwahlen in Wien – würde es für die ÖVP doch die historische Chance geben, (wie in Wiener Neustadt) erstmals einen SPÖ-Bürgermeister an der Spitze der Stadt abzulösen. Hoffen auf die FPÖ. Große Hoffnungen setzt die Wiener SPÖ nun in Sozialministerin Beate Hartinger-Klein. Die FPÖ-Politikerin lässt nahezu kein Fettnäpfchen aus „und treibt uns Wähler zu“, wie es in SPÖ-Kreisen heißt: „Zuerst will sie AUVA-Spitäler in Wien schließen – obwohl den Wienern ihre Spitäler heilig sind. Und dann erklärt die Ministerin, dass 150 Euro monatlich zum Leben reichen sollen.“
Damit stößt Hartinger-Klein gerade den „kleinen Mann“(wie es die FPÖ gern formuliert) vor den Kopf. Also jene, die oft enttäuscht zur FPÖ abgewandert sind. Und die nun enttäuscht zur SPÖ zurückkommen könnten.