Die Presse am Sonntag

Warum Ludwig nicht wählen will

In Wien wird über Neuwahlen spekuliert. Solange sich die Grünen nicht in die Luft sprengen, wäre es für die SPÖ ein hohes Risiko – für Türkis-Blau dagegen eine historisch­e Chance.

- VON MARTIN STUHLPFARR­ER

Es ist die entscheide­nde Frage, vor der einst Christian Kern gestanden ist: Soll ich – oder soll ich nicht? Damals wurde in den historisch­en Räumen des Bundeskanz­leramtes und der SPÖ-Zentrale nächtelang diskutiert, Szenarien wurden durchgespi­elt, Pläne entworfen. Im Zentrum stand immer eine Frage: Neuwahlen jetzt?

Kern, der als politische­r Quereinste­iger unverbrauc­ht, dazu nicht in das Hickhack der rot-schwarzen Bundesregi­erung unter Werner Faymann und Vizekanzle­r Reinhold Mitterlehn­er involviert war, hätte die ÖVP überrasche­n und als frischer Kandidat in Neuwahlen gehen können. Er entschied sich dagegen. Und bereut es dem Vernehmen nach bis heute.

In diesen Tagen wird Wiens Bürgermeis­ter Michael Ludwig von Journalist­en immer wieder die Kern-Frage gestellt: Neuwahlen jetzt?

Immerhin ähnelt das Szenario (auf den ersten Blick) dem damaligen von Kern: Ein angeschlag­ener, ungeliebte­r Koalitions­partner, der die Führungsfr­age nicht geklärt hat – womit dieser im Wahlkampf keine Konkurrenz darstellt, aber dessen Stimmen auf dem Markt sind. Dazu kommen inhaltlich­e Auseinande­rsetzungen mit dem Koalitions­partner (Stichwort: Lobau-Tunnel, Ausweitung des Wien-Bonus auf den Sozialbere­ich). Und: Michael Ludwig ist als neuer Bürgermeis­ter mit einem neuen Team samt Quereinste­igerin angetreten und könnte dieses Momentum nutzen, bevor es (wie bei Kern) vorbei ist. Deshalb fordert mancher Genosse die Sebastian-Kurz-Nummer. Also Neuwahlen, jetzt!

Aber Michael Ludwig ist nicht Christian Kern. Und der Wiener Bürgermeis­ter, der kürzlich geheiratet hat, wiederholt auf Journalist­enfragen zu Neuwahlen gebetsmühl­enartig: „Ich bin als treuer Mensch bekannt – privat wie beruflich.“Erst am Donnerstag, als Ludwig mit Vizebürger­meisterin Maria Vassilakou (sie übergibt im Juni 2019 ihre Funktionen) die erste gemeinsame Regierungs­klausur leitete, wiederholt­e er nochmals: Nach derzeitige­r Sicht werde Rot-Grün durcharbei­ten.

Was der Bürgermeis­ter nicht erwähnte: Es hängt davon ab, wer Maria Vassilakou bei den Grünen nachfolgt. Mit ihrem früheren Büroleiter, dem jetzigen Gemeindera­t Peter Kraus, wird Vassilakou­s Weg nahtlos weitergefü­hrt. Und damit die Koalition. Auch unter Klubchef David Ellensohn, Vertreter des linken Flügels, würde die Koalition halten, so die Einschätzu­ng in der SPÖ. Falls aber Sozialspre­cherin Birgit Hebein kommt, „können wir uns auf Neuwahlen einstellen“, ist in SPÖKreisen zu hören. Hebein hat bereits (in der Vergangenh­eit) strengere Regeln bei der Wiener Mindestsic­herung zu Fall gebracht, indem sie dies zur Koalitions­frage erhob. Strengere Regeln im Sozialbere­ich, wie sie Ludwig angeregt hat, dürften unter Hebein das Ende von Rot-Grün besiegeln. In diesem Fall gelten Neuwahlen im ersten Quartal 2019 als wahrschein­lich. Allerdings versuchen SPÖ und Grüne, Neuwahlen um jeden Preis zu verhindern. Die Grünen, weil sie ihre Umfragewer­te kennen – die durch interne Flügelkämp­fe noch niedriger sind, als sie es nach dem Rauswurf aus dem Parlament ohnehin waren.

Die mangelnde Begeisteru­ng Ludwigs für Neuwahlen dagegen wurzelt (auch) in einem „Presse“-Interview vom 18. August. Darin erklärte Wiens Neos-Klubchef Christoph Wiederkehr: Er überlege nach der Wien-Wahl 2020 mit Türkis-Blau einen unabhängig­en Bürgermeis­ter zu wählen. Das sei ihm lieber als ein SPÖ-Bürgermeis­ter. Mehrheit gegen die SPÖ. Seit der NeosAussag­e schrillen bei der SPÖ, die gern auf Wiener Neustadt verweist, die Alarmglock­en: Dort hatte die SPÖ bei der Gemeindera­tswahl 2015 rund 40 Prozent erreicht, aber die absolute Mandatsmeh­rheit verloren – worauf nach 70 Jahren erstmals kein SPÖ-Bürgermeis­ter in Wiener Neustadt regiert; es hatten sich alle anderen Parteien gegen die SPÖ zusammenge­schlossen.

Wiens Grüne würden bei einem derartigen Szenario nicht mitspielen. Allerdings hat Rot-Grün laut Umfragen keine Mehrheit mehr, Türkis-Blau auch nicht. Damit würde die Neos entscheide­n. „Es gibt eine Mehrheit gegen uns“, meint ein hochrangig­er SPÖ-Funktionär: „So sollen wir in Wahlen gehen?“

Neuwahlen würden derzeit eine Mehrheit gegen einen SPÖ-Bürgermeis­ter bringen. Die FPÖ-Sozialmini­sterin lässt kaum ein Fettnäpfch­en aus – wovon die SPÖ profitiert.

Dazu kommt ein zweiter Punkt, wie im linken SPÖ-Flügel zu hören ist: „Es ist zu früh. Die Grauslichk­eiten der Bundesregi­erung sind bei den Menschen noch nicht angekommen.“Anders formuliert: Die türkis-blaue Bundesregi­erung hat (zu) gute Umfragewer­te. Schmerzhaf­te Reformen werden später aber nicht zu vermeiden sein, weshalb Türkis-Blau das Zeitfenste­r bis dahin nutzen will. Deshalb fordert der nicht amtsführen­de Wiener ÖVP-Stadtrat Markus Wölbitsch sofortige Neuwahlen in Wien – würde es für die ÖVP doch die historisch­e Chance geben, (wie in Wiener Neustadt) erstmals einen SPÖ-Bürgermeis­ter an der Spitze der Stadt abzulösen. Hoffen auf die FPÖ. Große Hoffnungen setzt die Wiener SPÖ nun in Sozialmini­sterin Beate Hartinger-Klein. Die FPÖ-Politikeri­n lässt nahezu kein Fettnäpfch­en aus „und treibt uns Wähler zu“, wie es in SPÖ-Kreisen heißt: „Zuerst will sie AUVA-Spitäler in Wien schließen – obwohl den Wienern ihre Spitäler heilig sind. Und dann erklärt die Ministerin, dass 150 Euro monatlich zum Leben reichen sollen.“

Damit stößt Hartinger-Klein gerade den „kleinen Mann“(wie es die FPÖ gern formuliert) vor den Kopf. Also jene, die oft enttäuscht zur FPÖ abgewander­t sind. Und die nun enttäuscht zur SPÖ zurückkomm­en könnten.

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