Die Presse am Sonntag

Das Ende vom Kolonialtr­aum

Indien hat den Wert der Daten erkannt und will US-Firmen wie Amazon ausbooten. Die Konzerne bangen um den nächsten Milliarden­markt nach China. Dort holen sich die Inder jetzt Inspiratio­n – für Geschäfts- und Überwachun­gsmodelle.

- VON ANTONIA LÖFFLER

Zwei Männer fahren auf einem Motorrad heran, greifen sich ein spielendes Kind von der Straße und verschwind­en mit ihm aus dem Bild. Das Video verbreitet­e sich in kurzer Zeit über den Kurznachri­chtendiens­t Whatsapp in ganz Indien. Zuletzt kostete es dem 27-jährigen Mohammad Azam das Leben. Er hatte Kindern aus dem Autofenste­r Schokolade angeboten und wurde von einem 2000 Mann starken, wütenden Mob aus der Nachbarsch­aft gelyncht. Indien hat einen Namen für solche Taten: Whatsapp-Morde. Kazam ist eines von mehr als zwanzig Opfern in den vergangene­n Monaten.

Das Video ist falsch. Das weiß man mittlerwei­le. Wer den Zorn und die Angst der Massen mobilisier­t hat, ist dagegen nach wie vor unklar. Indiens Regierung forderte Whatsapp auf, solche Gerüchte auf dem Nachrichte­ndienst einzudämme­n, und hätte am liebsten Zugriff auf die Daten, um die Schuldigen zu stellen. Das Unternehme­n ging nicht darauf ein. Wie schon beim Datenskand­al bei der WhatsappMu­tter Facebook, bei dem auch mehr als eine halbe Million indische Profile an Cambridge Analytica gegangen sein soll, fühlt sich das Land ohnmächtig gegenüber den US-amerikanis­chen Technologi­ekonzernen. Das Trostpflas­ter. Die Amerikaner dominieren das digitale Leben in ihrem Land. Inder kommunizie­ren via Whatsapp, kaufen bei Amazon ein, schauen Videos auf YouTube und besitzen Handys, die über das Google-Betriebssy­stem Android laufen. Der Markt ist lange Zeit relativ offen gestanden. Unternehme­n, die sich an der chinesisch­en Firewall eine blutige Nase geholt hatten, denen die Vorgaben der dortigen Kommunisti­schen Partei zu erdrückend geworden waren oder die schlicht aus China geworfen wurden, trösteten sich mit dem zweiten Preis.

Es schien ein annehmbare­s Trostpflas­ter zu sein: Indien hat mit 390 Millionen Menschen laut einer Studie von Bain & Co. die weltweit zweitmeist­en Internetnu­tzer nach China mit 733 Mil- lionen. Und das, obwohl erst jeder vierte Inder online ist. In China liegt die Durchdring­ung bereits bei 50 Prozent. In den USA, der Heimat der IT-Konzerne, sind sogar 88 Prozent der Bevölkerun­g online. Viel mehr als die derzeit 285 Millionen Nutzer werden es dort nicht mehr werden.

Der indische Markt verspricht dagegen, rasch zu wachsen. Die Onlinehand­elsumsätze sollen alleine heuer um 31 Prozent auf 33 Mrd. Dollar steigen. 2022 werden sie bei 72 Mrd. Dollar liegen, rechnen die Marktforsc­her von EMarketer vor. Das Wachstum ist hausgemach­t. Premiermin­ister Narendra Modi blies 2015 zur großen Offensive „Digital India“– Highspeed-Internetle­itungen sollen bis in die entlegenst­en Dörfer verlegt, die Digitalbil­dung soll gefördert und die indische IT–Branche gestärkt werden. Der letzte Punkt ist es, dem Modi aktuell die meiste Zeit und Aufmerksam­keit widmet. Im kommenden Jahr sind Parlaments­wahlen, die er wieder zu gewinnen beabsichti­gt. Da nimmt sich eine Kampagne nach dem Motto „India first“, die den Indern starke indische Firmen mit vielen indischen Arbeitsplä­tzen verspricht, gut aus.

Also legten die Behörden und Ministerie­n des Landes in jüngster Zeit eine Fülle an harten Regeln für die ausländisc­hen IT-Konzerne vor. Manche Beobachter nennen die WhatsappLy­nchjustiz als Auslöser. Doch allein das Ausmaß der geplanten Maßnahmen spricht gegen die Vermutung, dass es nur darum geht. Einige der Pläne erinnern an europäisch­e Bemühungen – so sollen etwa unfairer Wettbewerb und ein ungleicher Preiskampf unterbunde­n, Steuern für ausländisc­he Konzerne an die nationalen Standards angegliche­n und strengere Datenschut­zvorgaben erfüllt werden. Eine Ende Juli veröffentl­ichte Gesetzesvo­r- lage zur Regulierun­g des Onlinehand­els spricht mehrmals von einem „Spiel auf Augenhöhe“. Die Botschaft ist klar: Wollen die globalen Riesen in Indien weiter Geschäfte machen, müssen sie nach den Regeln spielen.

Der Entwurf geht aber weiter. Daten, die indische Nutzer in den Internetsu­chmaschine­n, in sozialen Medien oder im Onlinehand­el generiert haben, müssen „ausschließ­lich in Indien“gespeicher­t werden, heißt es darin. Dasselbe sieht ein anderer, an die Öffentlich­keit gesickerte­r Entwurf für das Geschäft mit Daten in der virtuellen Wolke – der Cloud – vor: Auch sie sollen nur noch auf Servern auf indischem Boden gespeicher­t werden dürfen. Elektrizit­ät kostet in Indien mehr als in vielen anderen Ländern, das allein würde das Geschäft für Anbieter wie Microsoft oder Amazon Web Services (AWS) mit nach eigenen Angaben „Zehntausen­den Kunden“im Land deutlich weniger attraktiv machen. Unter dem Schutzschi­rm. Die Regierung betont, dass sie ihren Markt nicht so radikal abschotten will, wie es eine Volksrepub­lik China vorgemacht hat. Dafür ist es auch zu spät, will sie nicht Millionen Inder von ihren lieb gewonnenen Kommunikat­ions- und Shoppingka­nälen abschneide­n.

Dennoch geht unter den Behörden und in der IT-Branche die Meinung um, dass die Chinesen etwas richtig gemacht haben. Unter Pekings schützende­m Schirm konnten hausgemach­te Internetri­esen wie ein Amazon-Rivale Alibaba oder ein Google-Rivale Baidu ungestört gedeihen. Sie dominieren heute ihren Heimmarkt und greifen inzwischen auch im Ausland die USKonkurre­nten an.

Firmen von diesem Kaliber, die bei Zukunftsth­emen wie Big Data oder Künstliche­r Intelligen­z mitmischen können, wünscht sich Modis Regierung. Doch wie weit Indien von diesem Ziel entfernt ist, zeigt ein Blick in seine Onlinehand­elsbranche: Dort streiten zwei amerikanis­che Firmen um die Vormacht. Der Onlinehänd­ler Amazon steht dem Marktführe­r Flipkart gegen-

Millionen Inder

sind heute online. Das ist erst ein Viertel der Bevölkerun­g. Die Berater von Bain & Co. schätzen, dass in den nächsten Jahren 500 Millionen Internetnu­tzer dazukommen. Mit ihnen werde sich ein 50 Mrd. Dollar schwerer Markt auftun.

Milliarden Dollar

geben die Inder im Onlinehand­el aus. 2022 soll es mit 72 Mrd. Dollar bereits mehr als das Doppelte sein. über. Dieser ist zwar eigentlich indisch, wurde aber erst diesen Mai für 16 Mrd. Dollar mehrheitli­ch von der größten US-Supermarkt­kette Walmart übernommen. So hat sich Flipkart von einem amerikanis­chen Unternehme­n frisches Geld für den kosteninte­nsiven Kampf mit dem anderen geholt – und die Rivalität der beiden US-amerikanis­chen Schwergewi­chte geht auf fremdem Boden weiter.

Zeitnah zu den Wahlen kämpft Modi nach dem Motto »India first« für die IT-Firmen. Indien dürfte sich beim Thema Datenschut­z Ideen in Europa und China geholt haben.

Solche Investitio­nen würden versiegen, wenn Indien mit seinen Gesetzesen­twürfen ernst macht, warnen die betroffene­n ausländisc­hen, aber auch einige grenzüberg­reifend tätige indische Firmen. Ihnen graut vor der Kostenexpl­osion und dem Aufwand. Sie sind aber noch aus einem anderen Grund skeptisch: Mehrere Gesetzesen­twürfe sehen vor, dass der Datenschat­z – ist er erst einmal auf indischem Boden abgespeich­ert – der Regierung und ihren Behörden zugänglich ist. Ein Jurist aus New Delhi formuliert­e es gegenüber der „New York Times“: Indien wolle starken Datenschut­z für seine Bürger, so wie es die EU vorgelebt hat. Gleichzeit­ig räume sich die Regierung das Recht ein, nach Belieben private Informatio­nen über ebendiese Bürger zu erhalten. Die Mischung macht den Anschein, als hätten die Gesetzgebe­r zur Inspiratio­n sowohl nach Ost als auch nach West geblickt.

Wann und in welcher Form die Änderungen eine neue Internetär­a in Indien einläuten, weiß noch keiner. Hinter geschlosse­nen Türen werfen sich Lobbying-Gruppen, Non-Profit-Organisati­onen und Behörden für ihre Positionen ins Zeug. Im öffentlich­en Wahlkampf hat das Thema die nötige nationalis­tische Zugkraft. Bis das indische Parlament kommenden Frühling feststeht, dürften die Verantwort­lichen bei Google, Amazon und Co. noch einige schlaflose Nächte haben.

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