Das Ende vom Kolonialtraum
Indien hat den Wert der Daten erkannt und will US-Firmen wie Amazon ausbooten. Die Konzerne bangen um den nächsten Milliardenmarkt nach China. Dort holen sich die Inder jetzt Inspiration – für Geschäfts- und Überwachungsmodelle.
Zwei Männer fahren auf einem Motorrad heran, greifen sich ein spielendes Kind von der Straße und verschwinden mit ihm aus dem Bild. Das Video verbreitete sich in kurzer Zeit über den Kurznachrichtendienst Whatsapp in ganz Indien. Zuletzt kostete es dem 27-jährigen Mohammad Azam das Leben. Er hatte Kindern aus dem Autofenster Schokolade angeboten und wurde von einem 2000 Mann starken, wütenden Mob aus der Nachbarschaft gelyncht. Indien hat einen Namen für solche Taten: Whatsapp-Morde. Kazam ist eines von mehr als zwanzig Opfern in den vergangenen Monaten.
Das Video ist falsch. Das weiß man mittlerweile. Wer den Zorn und die Angst der Massen mobilisiert hat, ist dagegen nach wie vor unklar. Indiens Regierung forderte Whatsapp auf, solche Gerüchte auf dem Nachrichtendienst einzudämmen, und hätte am liebsten Zugriff auf die Daten, um die Schuldigen zu stellen. Das Unternehmen ging nicht darauf ein. Wie schon beim Datenskandal bei der WhatsappMutter Facebook, bei dem auch mehr als eine halbe Million indische Profile an Cambridge Analytica gegangen sein soll, fühlt sich das Land ohnmächtig gegenüber den US-amerikanischen Technologiekonzernen. Das Trostpflaster. Die Amerikaner dominieren das digitale Leben in ihrem Land. Inder kommunizieren via Whatsapp, kaufen bei Amazon ein, schauen Videos auf YouTube und besitzen Handys, die über das Google-Betriebssystem Android laufen. Der Markt ist lange Zeit relativ offen gestanden. Unternehmen, die sich an der chinesischen Firewall eine blutige Nase geholt hatten, denen die Vorgaben der dortigen Kommunistischen Partei zu erdrückend geworden waren oder die schlicht aus China geworfen wurden, trösteten sich mit dem zweiten Preis.
Es schien ein annehmbares Trostpflaster zu sein: Indien hat mit 390 Millionen Menschen laut einer Studie von Bain & Co. die weltweit zweitmeisten Internetnutzer nach China mit 733 Mil- lionen. Und das, obwohl erst jeder vierte Inder online ist. In China liegt die Durchdringung bereits bei 50 Prozent. In den USA, der Heimat der IT-Konzerne, sind sogar 88 Prozent der Bevölkerung online. Viel mehr als die derzeit 285 Millionen Nutzer werden es dort nicht mehr werden.
Der indische Markt verspricht dagegen, rasch zu wachsen. Die Onlinehandelsumsätze sollen alleine heuer um 31 Prozent auf 33 Mrd. Dollar steigen. 2022 werden sie bei 72 Mrd. Dollar liegen, rechnen die Marktforscher von EMarketer vor. Das Wachstum ist hausgemacht. Premierminister Narendra Modi blies 2015 zur großen Offensive „Digital India“– Highspeed-Internetleitungen sollen bis in die entlegensten Dörfer verlegt, die Digitalbildung soll gefördert und die indische IT–Branche gestärkt werden. Der letzte Punkt ist es, dem Modi aktuell die meiste Zeit und Aufmerksamkeit widmet. Im kommenden Jahr sind Parlamentswahlen, die er wieder zu gewinnen beabsichtigt. Da nimmt sich eine Kampagne nach dem Motto „India first“, die den Indern starke indische Firmen mit vielen indischen Arbeitsplätzen verspricht, gut aus.
Also legten die Behörden und Ministerien des Landes in jüngster Zeit eine Fülle an harten Regeln für die ausländischen IT-Konzerne vor. Manche Beobachter nennen die WhatsappLynchjustiz als Auslöser. Doch allein das Ausmaß der geplanten Maßnahmen spricht gegen die Vermutung, dass es nur darum geht. Einige der Pläne erinnern an europäische Bemühungen – so sollen etwa unfairer Wettbewerb und ein ungleicher Preiskampf unterbunden, Steuern für ausländische Konzerne an die nationalen Standards angeglichen und strengere Datenschutzvorgaben erfüllt werden. Eine Ende Juli veröffentlichte Gesetzesvor- lage zur Regulierung des Onlinehandels spricht mehrmals von einem „Spiel auf Augenhöhe“. Die Botschaft ist klar: Wollen die globalen Riesen in Indien weiter Geschäfte machen, müssen sie nach den Regeln spielen.
Der Entwurf geht aber weiter. Daten, die indische Nutzer in den Internetsuchmaschinen, in sozialen Medien oder im Onlinehandel generiert haben, müssen „ausschließlich in Indien“gespeichert werden, heißt es darin. Dasselbe sieht ein anderer, an die Öffentlichkeit gesickerter Entwurf für das Geschäft mit Daten in der virtuellen Wolke – der Cloud – vor: Auch sie sollen nur noch auf Servern auf indischem Boden gespeichert werden dürfen. Elektrizität kostet in Indien mehr als in vielen anderen Ländern, das allein würde das Geschäft für Anbieter wie Microsoft oder Amazon Web Services (AWS) mit nach eigenen Angaben „Zehntausenden Kunden“im Land deutlich weniger attraktiv machen. Unter dem Schutzschirm. Die Regierung betont, dass sie ihren Markt nicht so radikal abschotten will, wie es eine Volksrepublik China vorgemacht hat. Dafür ist es auch zu spät, will sie nicht Millionen Inder von ihren lieb gewonnenen Kommunikations- und Shoppingkanälen abschneiden.
Dennoch geht unter den Behörden und in der IT-Branche die Meinung um, dass die Chinesen etwas richtig gemacht haben. Unter Pekings schützendem Schirm konnten hausgemachte Internetriesen wie ein Amazon-Rivale Alibaba oder ein Google-Rivale Baidu ungestört gedeihen. Sie dominieren heute ihren Heimmarkt und greifen inzwischen auch im Ausland die USKonkurrenten an.
Firmen von diesem Kaliber, die bei Zukunftsthemen wie Big Data oder Künstlicher Intelligenz mitmischen können, wünscht sich Modis Regierung. Doch wie weit Indien von diesem Ziel entfernt ist, zeigt ein Blick in seine Onlinehandelsbranche: Dort streiten zwei amerikanische Firmen um die Vormacht. Der Onlinehändler Amazon steht dem Marktführer Flipkart gegen-
Millionen Inder
sind heute online. Das ist erst ein Viertel der Bevölkerung. Die Berater von Bain & Co. schätzen, dass in den nächsten Jahren 500 Millionen Internetnutzer dazukommen. Mit ihnen werde sich ein 50 Mrd. Dollar schwerer Markt auftun.
Milliarden Dollar
geben die Inder im Onlinehandel aus. 2022 soll es mit 72 Mrd. Dollar bereits mehr als das Doppelte sein. über. Dieser ist zwar eigentlich indisch, wurde aber erst diesen Mai für 16 Mrd. Dollar mehrheitlich von der größten US-Supermarktkette Walmart übernommen. So hat sich Flipkart von einem amerikanischen Unternehmen frisches Geld für den kostenintensiven Kampf mit dem anderen geholt – und die Rivalität der beiden US-amerikanischen Schwergewichte geht auf fremdem Boden weiter.
Zeitnah zu den Wahlen kämpft Modi nach dem Motto »India first« für die IT-Firmen. Indien dürfte sich beim Thema Datenschutz Ideen in Europa und China geholt haben.
Solche Investitionen würden versiegen, wenn Indien mit seinen Gesetzesentwürfen ernst macht, warnen die betroffenen ausländischen, aber auch einige grenzübergreifend tätige indische Firmen. Ihnen graut vor der Kostenexplosion und dem Aufwand. Sie sind aber noch aus einem anderen Grund skeptisch: Mehrere Gesetzesentwürfe sehen vor, dass der Datenschatz – ist er erst einmal auf indischem Boden abgespeichert – der Regierung und ihren Behörden zugänglich ist. Ein Jurist aus New Delhi formulierte es gegenüber der „New York Times“: Indien wolle starken Datenschutz für seine Bürger, so wie es die EU vorgelebt hat. Gleichzeitig räume sich die Regierung das Recht ein, nach Belieben private Informationen über ebendiese Bürger zu erhalten. Die Mischung macht den Anschein, als hätten die Gesetzgeber zur Inspiration sowohl nach Ost als auch nach West geblickt.
Wann und in welcher Form die Änderungen eine neue Internetära in Indien einläuten, weiß noch keiner. Hinter geschlossenen Türen werfen sich Lobbying-Gruppen, Non-Profit-Organisationen und Behörden für ihre Positionen ins Zeug. Im öffentlichen Wahlkampf hat das Thema die nötige nationalistische Zugkraft. Bis das indische Parlament kommenden Frühling feststeht, dürften die Verantwortlichen bei Google, Amazon und Co. noch einige schlaflose Nächte haben.