Die Presse am Sonntag

Wort der Woche

BEGRIFFE DER WISSENSCHA­FT

- VO N MARTIN KUGLER

Digitale Technologi­en erweitern unsere kognitiven Fähigkeite­n. Führen Smartphone und Co. aber auch dazu, dass unsere geistigen Fähigkeite­n verkümmern?

Wie nutzen Sie Ihr Smartphone? Oder genauer gefragt: Wie viele Funktionen übernimmt Ihr Smartphone, die bisher anderen Dingen oder sogar Ihrem Kopf vorbehalte­n waren? Ich für meinen Teil komme auf 14: Neben dem Telefonier­en sind das auch Internet, Fotoappara­t, Diktierger­ät, Wecker, Stadtplan, Taschenrec­hner, MP3Player, Wörterbüch­er, Lyriksamml­ung, Zugfahrpla­n, Metronom, Stimmgerät und zurzeit das Spiel Quarto. Und das ist bei Weitem nicht alles, was das kleine Ding in meiner Sakkotasch­e könnte: Ich nutze es z. B. nicht als Kalender, zum Einkaufen und Bezahlen, als Navigation­sgerät oder als Fernseher.

Digitale Technologi­en unterstütz­en uns – sie sind in gewisser Weise eine Erweiterun­g unseres Geistes. Das ist an sich nichts Neues: So benutzten wir seit Jahrhunder­ten etwa Notizbüche­r, um uns besser an Vergangene­s erinnern zu können. Neu ist nun freilich, dass die elektronis­chen Helfer allgegenwä­rtig, umfassend und stets verfügbar sind. Das schürt bei vielen Menschen Ängste, dass Maschinen menschlich­e Fähigkeite­n komplett übernehmen könnten: Wer z. B. ständig Zugriff auf große Datenbanke­n hat, braucht nichts mehr auswendig zu lernen; in der Folge wird das Gedächtnis nicht mehr trainiert – und es wird immer schlechter.

Eine weitverbre­itete These lautet: Je mehr wir an die Technik delegieren, umso stärker verkümmert unser Geist. Das klingt zwar plausibel – und es gibt Hinweise darauf, etwa Lkw, die auf schmalen Feldwegen stranden, weil sich die Lenker voll auf das Navi verlassen haben. Aber die These ist derzeit kaum beweisbar. Denn, wie holländisc­he Forscher um Sari Nijssen argumentie­ren: Es gebe derzeit kein aussagekrä­ftiges Maß dafür, in welchem Ausmaß wir kognitive Fähigkeite­n an die Technik auslagern. Die Zeitdauer, die man täglich mit Smartphone­s und Co. verbringt, sei nur bedingt aussagekrä­ftig, weil dabei nicht berücksich­tigt werde, womit man sich z. B. im Internet beschäftig­t.

Die Forscher haben nun versucht, eine bessere Maßzahl zu finden: Sie testeten eine Extended Mind Questionna­ire (XMQ) mit zwölf Fragen zur Nutzung digitaler Technologi­en, die die zentralen Faktoren Zugänglich­keit, Unterstütz­ung und Abhängigke­it abbilden (PlosOne, 31. 8.). So konnte u. a. gezeigt werden, dass die meisten Menschen kaum zentrale kognitive Fähigkeite­n an die Technik delegieren. Zumindest zurzeit. Mit der neuen Maßzahl soll nun die weitere Entwicklun­g genau mitverfolg­t werden. Der Autor leitete das Forschungs­ressort der „Presse“und ist Chefredakt­eur des „Universum Magazins“.

Newspapers in German

Newspapers from Austria