Sex, Lügen und Neurosen in Wien
Vergessen war Ida Bauer nie, sie war als »Dora« eine der berühmten Patientinnen Sigmund Freuds. Sie wagte es, den berühmten Mann zu düpieren. Nun liegt ein Roman über ihr Leben vor, von ihrer Urenkelin.
Würde man Leporello beauftragen, über Arthur Schnitzlers Amouren eine Registerarie zu singen, käme man wohl mehrere Tage nicht aus dem Opernhaus hinaus. Über die meisten seiner Liebesakte wissen wir Bescheid, er notierte in seinem Tagebuch alle Höhepunkte sehr sorgfältig. Dem Drang dieses Don Juan, immer wieder die ihn faszinierenden Spielarten der Sexualität im Wien der Jahrhundertwende zu erkunden, verdanken wir großartige Dichtungen. Viele sehen ihn bis heute als Sigmund Freud der Literatur, auch Freud selbst teilte diese Meinung.
Schnitzler schaute sich bei seiner Auslotung der komplizierten Choreografie des erotischen Lebens von Wien viel ab von der großbürgerlichen Gesellschaftsschicht, in die er hineingeboren worden war. Szenarien, die einer lebhaften Fantasie entsprungen zu sein scheinen, spiegeln die Realität wider. Wie von Schnitzler ausgedacht könnte das Geschehen rund um Sigmund Freuds berühmte Patientin Ida Bauer sein. Freud-Biograf Peter Gay nennt es ein „Ballett von versteckter sinnlicher Hemmungslosigkeit unter dem Mantel der strengsten Schicklichkeit“, ein „Kammerspiel der Neurosen und Lebenslügen“. Steve Marcus spricht von einer „viktorianischen Konstellation“, der der Arzt Sigmund Freud wie ein Wahrheitsfanatiker aus einem Stück von Ibsen gegenübertrat. Er grub unter die höfliche gesellschaftliche Oberfläche, weil er davon überzeugt war, dass die moderne Sexualität durch eine „Mischung von unbewusster Verleugnung und bewusster Verlogenheit, vor allem in den besseren Schichten der Gesellschaft, abgeschirmt war“(Gay). Dunkles Familiengeheimnis. In der Tat tut sich im Fall Bauer eine Familiengeschichte auf, die nicht nur von Intrigen, Geheimnissen und heimlichen außerehelichen Liebesbeziehungen geprägt ist, sondern auch von zeittypischen Neurosen. Der rasche ökonomische und soziale Aufschwung der jüdischen Familien war nur durch intensive und harte Arbeit unter widrigen gesellschaftlichen Bedingungen möglich. Das forderte seinen Preis. „Der Adel hat eine Familiengeschichte, der jüdische Bourgeois eine Neurosengeschichte“, spottete Hermann Broch.
Auch Ida Bauers Vater Philipp arbeitete hart als Textilunternehmer, bis er zu seinem Reichtum kam. Er litt an den Nachwirkungen einer Tuberkulose und an einer Syphilisinfektion, die er sich vor der Ehe zugezogen und mit
Die Choreografie des erotischen Lebens der Wiener Großbürger war kompliziert.
der er seine Ehefrau angesteckt hatte. Sie war eine ungebildete und zwanghaft mit Putzen beschäftigte Frau, Freud attestierte ihr eine „Hausfrauenpsychose“.
Für die Tochter hatte sie keine Zuneigung, eher für den älteren Sohn Otto. Die Geschlechtskrankheit war das dunkle Geheimnis der Familie Bauer, auch die Kinder wussten davon. Freuds Patient war Bauer bereits, als noch niemand den Wiener Arzt kannte.
Für zehn Jahre übersiedelte die Familie in den Kurort Meran. Früh merkte Ida die Entfremdung zwischen den Eltern, auch ahnte sie, dass der Vater eine von ihm bestrittene außereheliche Liebesbeziehung zur Ehefrau eines guten Freundes der Familie unterhielt, die ihn als Kranken pflegte. Freud nennt die Familie „K.“. Das Ganze wirkte nach außen wie die ganz normale Beziehung zwischen zwei befreundeten