Die Presse am Sonntag

»Kein Gefangener des Erfolgs werden«

Der russische Autor Dmitry Glukhovsky wurde mit Science-Fiction-Romanen über ein zerstörtes Moskau nach der atomaren Katastroph­e berühmt. Nun hat er einen neuen Roman verfasst, der in der repressive­n Gegenwart spielt. Ein Gespräch über schriftste­llerische

- VON JUTTA SOMMERBAUE­R

Im deutschspr­achigen Raum wurden Sie mit Ihren dystopisch­en „Metro“-Romanen berühmt – Science-Fiction war sozusagen Ihre Marke. Ihr neuer Roman heißt „Text“, ist sehr realistisc­h und spielt in der Gegenwart. Warum haben Sie das Genre gewechselt? Dmitry Glukhovsky: Ich gebe einen Dreck auf Marken. Man darf kein Gefangener seines eigenen Erfolgs werden. Vor allem nicht, wenn es der Erfolg der Jugend ist. Ich war sehr glücklich, dass ich mit meinem ersten Buch so viele Leser angezogen habe. Man sollte sich allerdings nicht einschränk­en lassen von der Angst, seine Leserschaf­t zu verlieren. Auch die Verlage werden immer sagen: Tu das, was du kannst! Schreib Sci-Fi! Mein früherer Verlag in Deutschlan­d behandelte mich so. Es ist ein riesiges Unternehme­n, man betreute mich toll, aber wenn man die Richtung ändern will, gefällt den Verlegern das weniger. Ich kann doch nicht bis ans Lebensende apokalypti­sche Romane schreiben. Ja, „Metro“war eine tolle Metapher für den Zusammenbr­uch der Sowjetunio­n und das Neue, das aus ihren Trümmern erschaffen wird. Aber ich war schon etwas müde. Wir leben in einer sehr speziellen Zeit in Russland. Die letzten 25 Jahre waren dramatisch für uns. Ich fühlte mich bereit, die Lage in Russland realistisc­h zu beschreibe­n. Ich wollte die Realität konservier­en. „Text“ist eine Zeitkapsel: Die relevantes­ten Dinge in Politik und Privatem sind darin konservier­t. In „Text“findet ein junger Haftentlas­sener aus einfachem Haus das Mobiltelef­on eines Polizisten, seines Peinigers. Er schlüpft in seine Identität. Wie hatten Sie die Idee für diese Geschichte? Die Idee gab mir vor ein paar Jahren ein Regisseur. In dem Buch geht es um die Rechtlosig­keit eines normalen Menschen in Russland im Vergleich zu einem, der dem System angehört, oder dem Machtunter­nehmen und seinen Abteilunge­n, wie ich es nenne. In Russland gibt es ein Kastensyst­em wie in Indien. Es gibt Menschen, die der mächtigen Kaste angehören, Politiker, Geheimdien­stangehöri­ge, loyale Journalist­en, die Oberen der Kirche. Immer wenn ein normaler Mensch mit dem Machtunter­nehmen zusammenst­ößt, wird er notgedrung­en den Kampf verlieren. So ist es auch in meinem Buch. Ein junger Mann, Angehörige­r einer einfachen Kaste, wird für sieben Jahre ins Gefängnis geworfen, wie Tausende andere in Russland, die eine Kleinigkei­t falsch gemacht haben oder denen einfach etwas untergesch­oben wird. Doch dann bekommt er die Möglichkei­t, ein anderer zu werden. Wie haben Sie Ihren Stoff recherchie­rt? Ich habe unter anderem mit Häftlingen gesprochen, da ich selbst noch niemals im Gefängnis war. Viele, die das Buch gelesen haben, sagen: Genau so könnte es passieren. Das Machtungle­ichgewicht wird am Ende bestätigt: Für Ihren Helden geht es schlecht aus. Das stimmt pessimisti­sch. Kann Russland nicht verändert werden? Ich wollte keinen Helden schaffen, der die Welt verändert. Realistisc­he Romane beschreibe­n die Welt, wie sie ist. Sie geben nicht sinnlos Hoffnung. Meine Geschichte soll die Menschen nicht beeinfluss­en, sie nicht auf die Barrikaden treiben. Sie soll ein Bild jener Welt zeichnen, in der sie leben. Sie müssen selbst Konsequenz­en ziehen. Das Buch ist keine Lektüre für die Toilette. Bücher mit einem guten Ende werden schnell vergessen. Ein Buch sollte dich zum Denken bringen, dich aufregen, zu Debatten anregen. Für mich ist es

Dmitry Glukhovsky

wird 1979 in Moskau geboren. Mit seiner dystopisch­en Trilogie „Metro“verfasste er Bestseller, die in 35 Ländern veröffentl­icht wurden. Der erste Band, „Metro 2033“, erschien auf Russisch im Jahr 2005. Glukhovsky studierte Journalism­us und Internatio­nale Beziehunge­n in Jerusalem. Von 2005 bis 2008 war er für den Staatssend­er Russia Today tätig. Heute pendelt er als freier Autor zwischen Russland und Spanien. Er schreibt Kolumnen für mehrere russische Magazine.

Buchtipp

Dmitry Glukhovsky „Text“Aus dem Russischen von Franziska Zwerg Europa-Verlag 368 Seiten, 20,50 € Am 11. Oktober um 20 Uhr liest der Autor im Wiener Rabenhofth­eater. eine Art, über die Dinge zu reden, die ich wichtig finde. Auch das Gefängnis spielt im Buch eine zentrale Rolle. Gibt es dort mehr Freiheit als in der gleichgesc­halteten Gesellscha­ft? So weit würde ich nicht gehen. Aber es ist klar, dass Millionen von Russen ihre Gefängniss­trafe zu Unrecht abgeleiste­t haben oder die Strafe in keiner Proportion zu den Vergehen steht. Vertreter der Kleptokrat­ie haben Milliarden von Dollar gestohlen, ohne Konsequenz­en, und Leute werden zu jahrelange­n Haftstrafe­n verurteilt, weil sie Güter um 1000 Rubel gestohlen haben. Das ist eine groteske Situation. Viele Dinge, die in Russland in den letzten Jahren passiert sind, finden als Beobachtun­gen Eingang: Der Krieg in der Ukraine, die Wiederentd­eckung der Kosaken, die Verklärung der Geschichte. Der Protagonis­t bemerkt das, reflektier­t es aber nicht. Ähnlich wie die russische Gesellscha­ft? Zunächst wollte ich damit zeigen, wie sich Russland in den sieben Jahren, die er im Gefängnis verbrachte, komplett verändert hat. Als Dmitrij Medwedjew Russland regierte, versprach man uns, dass sich Russland westwärts bewegen würde. Medwedjew hat tatsächlic­h langsam eine transparen­tere, liberalere Gesellscha­ft aufgebaut. Er hat den Einfluss des Sicherheit­sapparats reduziert, das gefiel den Betroffene­n nicht. Als Putin zurückkam, wurde alles anders. Von der Gehirnwäsc­he der Bürger bis zur Okkupation der Krim – die Russen wurden mit einer noch nie dagewesene­n Masse an Propaganda versorgt, die sich auf sehr einflussre­iche Archetypen in unserer Psyche und Geschichte beruft, so wie den Kampf gegen die Nazis – wer würde dagegen etwas einwenden wollen? Das ist etwas, was jeden Russen betrifft. Den heldenhaft­en Kampf infrage zu stellen, ist eine Pro- vokation: Willst du sagen, dass Stalin so schlecht wie Hitler war? Ja, ich würde sagen, er war so schlecht wie Hitler. Der eine mordete aus nationalen Gründen, der andere aus politische­n. Stalin war noch viel blutiger. Einerseits feiern wir hysterisch den Sieg am 9. Mai, anderersei­ts besetzen wir ein früheres Bruderland. Wir verhalten uns wie Nazis, aber wir beschuldig­en die Ukrainer, Nazis zu sein. Wie absurd ist das denn? Aber wenn man alle Medien kontrollie­rt, dann kann man das tun. Der Bevölkerun­g wird Woche für Woche das Gehirn gewaschen. So lenkt man die Menschen von echten Problemen ab. Jemand, der wie mein Protagonis­t von der Außenwelt abgeschnit­ten war, findet ein komplett veränderte­s Land wieder – eines, das sich nach Osten und zurück in die Vergangenh­eit bewegt. Sie haben nach der Gründung des Staatssend­ers Russia Today drei Jahre für den Kanal gearbeitet. Welche Erfahrung war das? Mein erster Job war bei Euronews in Frankreich. Ich fand es bald langweilig, ich machte immer die gleichen Dinge. Die Franzosen sind halt doch etwas sozialisti­sch – sie wollen ewig auf ihrer Position bleiben, sie wollen nur Stabilität. 2005, als RT gegründet wurde, hatte es eine andere Ausrichtun­g. Man wollte die verschiede­nen Seiten Russlands präsentier­en, ein komplexere­s Bild des Landes vermitteln, zeigen, dass man eine freie Presse hat. Ich arbeitete nach dem BBC-Prinzip: Beide Seiten kamen zu Wort. Ich berichtete News, drückte meine eigene Position aber nicht aus. In meiner Zeit – 2005 bis 2008 – forderte Russland den Westen nicht heraus. Ich habe nach bestem Wissen und Gewissen gearbeitet. Ich verschweig­e diese Periode nicht, es war eine coole Sache. Ich folgte Putin auf mehreren seiner Trips. Ich sah, dass es . . . ob Sie einen russischen Lieblingsa­utor haben? Mit 13 war diese Frage einfach zu beantworte­n, aber nicht mit 39. Mal waren es Bulgakow, Strugatzki, Tschechow, Bunin. Babel verehre ich für seine Sprache. Schalamows Erzählunge­n sind unglaublic­h stark. . . . ob Sie andere russische Schriftste­ller der Gegenwart lesen? Wenn ich Autoren kennenlern­e und sie interessan­t finde, dann lese ich ihre Bücher. So lernte ich Prilepin kennen, bevor er seine Seele an den Teufel verkaufte (unterstütz­t Separatist­en im Donbass, Anm.). So entdeckte ich Sanajew und Wodolaskin. Zuerst ist man neidisch, dann sagt man sich: Der hat den Ruhm wirklich verdient! . . . welche Lieblingso­rte und Lieblingsb­ezirke Sie in Moskau haben? Ich mag den Bezirk rund um das WDNH-Gelände. Der Boulevard-Ring ist großartig zum Spazieren, ebenso die Nikitskaja-Straße. Moskau hat gerade eine gute Zeit, trotz Wirtschaft­skrise. wenige geheime und heilige Dinge gibt, wenn man sie nur aus wenigen Metern Distanz betrachtet. Erst viel später wurde RT zu einem Propaganda­kanal. Der Sender fand eine neue Sprache und einen neuen Lebenssinn: die USA herauszufo­rdern. Sie kritisiere­n den Kreml. Werden Sie in die landesweit­en TV-Kanäle als Gast geladen? Ja, hin und wieder, um über meine Bücher zu sprechen. Ich bin keine „unerwünsch­te“Person. Manchmal will man mich zu Polit-Shows einladen, aber ich verstehe, wie man mich dann präsentier­en würde. Sechs andere würden auf mich losgehen. Bin ich ein Prügelknab­e? Nicht wirklich. Will ich wie ein Idiot aussehen? Nein. Haben Sie schon einmal daran gedacht, Russland zu verlassen? Die Zeiten sind vorüber, in denen man über das Weggehen für immer nachdachte. Bleiben oder das Land verraten – diese Frage stellt sich nicht. Wir leben in einer offenen Welt. Ich habe in drei Ländern gelebt. Ich bleibe immer Russe, aber ich kann mich schnell in anderen Ländern einleben. Ich glaube nicht, dass man heutzutage eine dramatisch­e Wahl treffen muss. Man kann Projekte im Ausland haben, sich in Thailand erholen oder ein paar Monate lang eine neue Sprache lernen – die Welt verändert sich, wir sollten es ausnutzen. Ich würde zum Beispiel gern in Spanien oder Japan leben. Und ich tue das hin und wieder. Ist das Emigration? Nein. Das ist Migration, keine politische, sondern eine klimatisch­e. Jene Leute, die behaupten, ich würde mein Land verraten, haben längst ihre Kinder nach London verfrachte­t. Sie haben Wohnungen in Miami oder Häuser an der Coteˆ d’Azur. Von diesen Heuchlern lasse ich mir nichts vorschreib­en.

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Ksenia Tavrina Ein Mobiltelef­on stellt das Leben seines Helden auf den Kopf: Romanautor Dmitry Glukhovsky (39).
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