Wo sind die Monster?
Biologie. Wie sprunghaft ist die Evolution? Wie einzigartig war die kambrische Explosion? Ein neuer Beitrag zu einer alten Debatte.
Wenn die Paläontologie eine Priesterschaft wäre, dann wäre Stephen Jay Gould ihr Pontifex“, schrieb einst der britische Paläontologe Richard Fortey. Doch in einem sei Gould falsch gelegen: in seiner Interpretation der Funde im Burgess-Schiefer in British Columbia, Kanada, einer der bedeutendsten Fossillagerstätten und Hauptschauplatz in Goulds berühmtem Buch „Wonderful Life“. Dort eröffnete sich eine Schatzkammer seltener Fossilien aus dem Mittleren Kambrium (vor etwa 505 Millionen Jahren). Darunter auch solche, die man keiner heutigen Gruppe zuordnen kann.
Stephan Jay Gould (1941–2002) nahm die rund 60.000 Fundstücke auch als Basis für seine These des „punctuated equilibrium“, des unterbrochenen Gleichgewichts: Die Evolution verlaufe nicht allmählich, sondern sei von Phasen rascher, explosiver Abänderungen geprägt. Mit graduellen, allmählichen Änderungen könnte man nicht einmal die Entstehung neuer Arten erklären, meinte ein früherer Vertreter des Punktualismus, der Genetiker Richard Goldschmidt. Nur mit schnellen Sprüngen, Makromutationen: Deren Ergebnisse seien „hopeful monsters“, quasi erste Vertreter einer neuen Art. Das bedeute, dass ein Sohn so anders sei als sein Vater, dass er zu einer anderen Art gehöre, merkte Richard Dawkins kritisch an. Das sehen alle Gradualisten – so nennt man das Gegenlager zu den Punktualisten – so: Nie schlüpfte plötzlich ein Vogel aus einem Reptilienei, solche Veränderungen passieren vielmehr in ganz kleinen Schritten.
Lieblingsepoche der Punktualisten ist das Kambrium. In einer kambrischen Explosion seien Vertreter fast aller heutigen Tierstämme in einem geologisch kurzen Zeitraum von fünf bis zehn Millionen Jahren entstanden. Und auch etliche Wesen, die heute ganz fremdartig anmuten. Etwa Hallucigenia: Gould beschrieb diesen Sonderling aus der Tiefsee als schlauchförmiges Wesen mit flexiblen Organen auf dem Rücken. Doch 1992 wurde er quasi posthum umgedreht: Er habe Stacheln auf dem Rücken gehabt, die fle- xiblen Organe seien schlicht seine Beine gewesen.
Von diesem doch nicht so monströsen Wesen zurück zu Goldschmidts hoffnungsvollen Monstern – und zur Kritik der Gradualisten an diesem Konzept. Der bedeutende Evolutionsbiologe Ernst Mayr (1904–2005) argumentierte, solche Monster hätten nur eine geringe Chance, sich zu etablieren, denn es sei ziemlich unwahrscheinlich, dass sie auf die gleiche Weise mutierte Paarungspartner fänden. Und Goulds Lieblingsgegner Dawkins meinte über das Buch „Wonderful Life“, es sei zwar sehr schön geschrieben, Goulds Theorien seien aber ein „sorry mess“, ein klägliches Durcheinander. 30 bis 40 Stämme. Unter Biologen völlig unumstritten ist, dass auch neue Arten im Grunde durch zufällige Mutationen und deren Selektion in der Umwelt entstehen. Und dass alle heute lebenden Tiere auf einen einzelligen Vorfahren zurückzuführen sind. Aus diesem entwickelten sich 30 bis 40 anatomische Baupläne, die man Stämmen zuordnet: darunter die Chordatiere, die – neben Manteltieren und Schädellosen – alle Wirbeltiere (Fische, Amphibien, Reptilien, Vögel, Säugetiere) umfassen, und die Gliederfüßer, zu denen Insekten, Krebse und Spinnen gehören.
Wurde also in der kambrischen Explosion, wie Gould glaubt, auf einmal das Maximum an Vielfalt erreicht? Oder gibt es Stämme, die sich auch noch später in der Evolutionsgeschichte maßgeblich diversifizierten? Wissenschaftler der Universität Bristol haben sich mit der Frage ganz systematisch befasst (Pnas, 3. 9.): Sie wählten 210 lebende Tiergruppen (z. B. Skorpione, Schnecken, Krokodile), die 34 Tierstämme repräsentieren. Dann listeten sie die An- oder Abwesenheit von fast 1800 Eigenschaften auf, darunter die Anzahl der Zelltypen oder die minimale und maximale Körpergröße in der Gruppe. In der zweiten Phase kombinierten sie diese Informationen mit einer repräsentativen Stichprobe an Daten über fossile Tierordnungen aus dem Kambrium, um auch ausgestorbene Arten mit einzubeziehen. So bastelten sie eine Art evolutionäre Landkarte, auf der die Abstände in der Zeichenebene indirekt proportional die anatomische Ähnlichkeit widerspiegeln.
Ihre Resultate sprechen gegen eine einzigartige kambrische Explosion: Die meisten Gruppen erreichten den Zenit ihrer anatomischen Diversität zwar sehr früh, aber bei einigen stieg sie auch noch später maßgeblich an. „Unsere Ergebnisse zeigen, dass fundamentale evolutionäre Veränderung nicht auf einen frühen Ausbruch der Evolution begrenzt ist“, sagt Koautor Philip Donoghue. Die Ausmaße der schnellen urzeitlichen Diversifizierung seien schlichtweg überschätzt worden.
Wesentliche Veränderung habe es also auch nach dem Kambrium gegeben. Vor allem in Stämmen, von den manche Gruppen maßgebliche ökologische Umstellungen erlebten – etwa den Umstieg von Wasser auf Land – und dafür neue Körperteile und andere Anpassungen benötigten. So erreichten die drei Stämme, die wir als intelligent ansehen – Gliederfüßer, Chordatiere, Weichtiere –, aber auch die Gliederwürmer (zu denen etwa der Regenwurm gehört) das Maximum ihrer Vielfalt nicht schon im Kambrium.
Monster haben das Problem, Paarungspartner mit derselben Mutation zu finden. Vor allem durch die Übersiedlung an Land waren große Adaptionen notwendig.
Außerdem bemerkten die Forscher bei der Betrachtung derzeit lebender Arten große leere Flecken auf der evolutionären Landkarte. Wenn sie jedoch auch die fossilen Gruppen einbezogen, dann füllten sich diese leeren Flecken. Dass sich heute die Mitglieder eines Stamms oft so stark voneinander unterscheiden (man denke nur an Menschen und Schleimaale, beides Wirbeltiere), liege nicht an Sprüngen in der Evolution, sondern schlicht daran, dass viele Zwischenformen ausgestorben sind. Von einer rein graduellen Entwicklung will Donoghue trotzdem nicht sprechen, lieber von einer episodischen. Dabei seien kleine Veränderungen häufig und große selten. Besonders starken Einfluss auf die anatomische Diversität haben naturgemäß regulatorische Gene, die die embryonale Entwicklung steuern.
Und was ist mit den Monstern, wie sie im Burgess-Schiefer schlummerten? „Viele der heute bekannten Tiere sind objektiv gesehen bizarr, auch wenn man sie mit den verschrobenen Wundern des Kambriums vergleicht“, sagt Koautor Bradley Deline: „Offen gesagt sind Schmetterlinge und Vögel viel komischer als irgendetwas, was im Urozean herumgeschwommen ist.“