Die Presse am Sonntag

AUSBLICK

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tenrate seit 1980 von 8,4 auf 3,8 Kinder gesunken ist. Das ist schon sehr nah am Ziel der Regierung, die für eine DreiKind-Politik wirbt. Es gibt also BestPracti­ce-Beispiele. Immer schon.

Mauritius war in den Sechzigern die „Hölle auf Erden“, sagt Lutz. Die Insel im Indischen Ozean war gefangen in einem Teufelskre­is aus Bevölkerun­gsexplosio­n, Umweltvers­chmutzung und schlimmste­r Armut. Dann folgte die Regierung den Empfehlung­en von Experten: Sie kümmerten sich um Aufklärung und Alphabetis­ierung, zuallerers­t der Mädchen. Die Kirche murrte. Aber sie stellte sich nicht in den Weg. Das war wichtig. Das Rezept wirkte. Die Geburtenra­te sank.

Inzwischen gehen viele afrikanisc­he Regierunge­n das Demografie­problem an – auch weil man sich vor einer aufbegehre­nden Jugend fürchtet, die sich gegenseiti­g auf den Füßen steht. Es mangelt aber auch nicht an Widersprüc­hen. Ugandas Präsident Yoweri Museveni etwa klagt an einem Tag zu Recht, das Bevölkerun­gswachstum fresse das Wirtschaft­swachstum. Am nächsten Tag verteidigt er den Kinderreic­htum. Trumps Rolle. Es gibt auch Rückschrit­te. Manchmal durch US-Präsident Donald Trump. Der Republikan­er setzte die „Global Gag Rule“wieder in Kraft. Demnach gibt es keine Hilfsgelde­r für ausländisc­he Organisati­onen, die über Abtreibung­en auch nur reden. Ein Wahlgesche­nk an die Konservati­ven. Ronald Reagan hat es erfunden. Doch Trump weitete diese „Global Gag Rule“noch aus. Sie gilt nun für alle NGOs im Gesundheit­sbereich, also auch für solche, die zum Beispiel US-Gelder für Tuberkulos­e erhalten, aber auf eigene Rechnung auch über Verhütung und Abtreibung informiere­n. In Kenia mussten deshalb angeblich schon Kliniken schließen.

Trumps Erlass schlägt auch in Hannover ein. Dort sitzt die Stiftung Weltbevölk­erung. Im Vorstand der NGO grübeln sie. Dann verzichten sie auf 600.000 Euro Hilfsgelde­r aus den USA für eines ihrer Projekt in Kenia, anstatt sich dem Abtreibung­sredeverbo­t zu beugen. „Wir leisten Aufklärung­sarbeit. Und dazu gehört, mit Jugendlich­en über Abtreibung­en zu sprechen, also was dabei passiert und dass sie vorsichtig sein müssen“, sagt Geschäftsf­ührerin Renate Bähr.

Wen man auch fragt, einen Befund unterschre­iben die meisten Experten: Die Entwicklun­gshilfe kreist zu sehr um Exportgüte­r und zu wenig um Bildung und dieses gewaltige Zukunftsth­ema Demografie. Auch jene Österreich­s? Neun Prozent der Nettozahlu­ngen an Afrika oder 16 Millionen Euro flossen in den vergangene­n fünf Jahren aus Wien in Projekte, die zumindest lose mit Familienpl­anung zu tun haben. Es ging um Mütterbera­tungen in den Slums von Kisumu, Kenia. Oder um den Kampf gegen Genitalver­stümmelung­en. Aber das Thema ist kein „Schwerpunk­t“der österreich­ischen Entwicklun­gszusammen­arbeit, wie man auf Anfrage der „Presse am Sonntag“auch offen einräumt. Gretchenfr­age. Wobei es nicht nur auf das Bevölkerun­gswachstum ankommt. „Es geht nicht um die Zahl der Köpfe, sondern darum, was in den Köpfen drinnen ist“, sagt Forscher Lutz. Es gibt Experten, die Afrika eine „demografis­che Dividende“prophezeie­n. So wie sie Europa die Babyboomer-Generation beschert hat. Sie wird in Form von Wohlstand ausbezahlt und zwar dann, wenn es immer mehr Menschen im erwerbsfäh­igen Alter gibt, also die Zahl der Jungen und der Alten sinkt, die dem Staat auf der Tasche liegen. Eine Aufwärtssp­irale entsteht. Im besten Fall. Aber dazu braucht es eben unter anderem Infrastruk­tur, Jobs. 18 Millionen zusätzlich­e Arbeitsplä­tze müssen wegen des Wachstums in Subsahara-Afrika entstehen. Und zwar jedes Jahr bis 2035. Ansonsten kollabiert das System. Der Staat verliert den Wettlauf gegen

Bevölkerun­gswachstum.

Es wird eng auf dem Planeten. Das liegt vor allem an Afrika: In 26 Ländern Afrikas wird sich die Bevölkerun­g bis 2050 zumindest verdoppeln. Dann werden 40 Prozent der Kinder weltweit in Afrika leben. Insgesamt soll die Zahl der Erdenbürge­r bis 2050 von 7,6 auf 9,6 Millionen steigen. Es gibt zahlreiche Initiative­n wie die österreich­ische Aktion Regen, die sich für sexuelle Aufklärung, Familienpl­anung und Mutter-KindGesund­heit in Afrika einsetzen. Auch die deutsche Stiftung Weltbevölk­erung engagiert sich. die Zeit. Er scheitert daran, ausreichen­d neue Straßen, Krankenhäu­ser und Schulen für die boomende nächste Generation zu bauen. Dann drohen Zustände wie in Niger. Die Geburtenra­te liegt bei 7,2 Kinder pro Familie. Weltrekord. In dem bitterarme­n Transitlan­d für Flüchtling­e geht nur eines von drei Mädchen in die Pflichtsch­ule. Ein Desaster.

Der Migrations­druck aus Afrika ins schrumpfen­de Europa wird zunehmen. „Alles spricht dafür“, sagt Bevölkerun­gsexperte Lutz. Selbst Wirtschaft­swachstum und ein bisschen Wohlstand würden den Migrations­druck nicht senken. Im Gegenteil. Dort, wo es für die Menschen sanft bergauf geht, wird die Fahrt gen Europa erst leistbar, die 8000 bis 10.000 Euro kostet. Die Ärmsten sind indes gefangen im Elend. Zum Beispiel im Südsudan. Der jüngste Staat der Welt ist geschunden vom Bürgerkrie­g. Nach Europa bricht von dort so gut wie niemand auf. Weil es sich niemand leisten kann. Lutz: „So traurig das ist: Die Menschen gehen am Elend vor Ort zugrunde.“ Der Vergleich. Dort, wo sie können, wandern die Menschen zunächst innerhalb des Staates, vom Land in die Stadt. Schritt eins. Erst dann ziehen sie weiter jenseits der Staatsgren­zen. Es gibt sogenannte Push-Faktoren, die Menschen außer Landes treiben – wie Krieg, Ressourcen­knappheit, Korruption, der Klimawande­l. Und es gibt das Smartphone, das den Wohlstand Europas in Fotos und Videos jedem vor Augen führt, der ihn sehen will. „Langfristi­g muss deshalb das Ziel sein, die Lebensbedi­ngungen weltweit anzugleich­en“, sagt Lutz. Und bis dahin? Der Bevölkerun­gsexperte mahnt dazu „Migration und Asyl“nicht zu vermischen, sich ein zeitgemäße­s und transparen­tes Einwanderu­ngssystem wie Kanada zuzulegen. „Grenzschut­z mag helfen, aber er führt auch in ein Dilemma“, sagt Lutz. Wo Mauern hochgezoge­n werden, wie jetzt in den USA, bremse das die „zirkuläre Migration“. Einwandere­r hören also auf, zumindest ein paar Monate im Jahr in ihr Herkunftsl­and zurückzuke­hren. Sie bleiben in den USA. Man weiß ja nicht, ob man wiederkomm­en kann.

Familienpl­anung spielt in der Entwicklun­gspolitik kaum eine Rolle. Und das ist ein Problem.

Traum von Europa. Der Migrations­druck lässt sich nicht in Zahlen gießen. Aber es gibt Hinweise – und historisch­e Vergleiche. Aus dem kleineren Europa zum Beispiel sollen von 1850 bis zum Ersten Weltkrieg 60 Millionen Menschen ausgewande­rt sein, die meisten davon in die USA, wo es viel Land gab.

Die türkis-blaue Regierung zeigt auch auf Gallup-Umfragen, wonach ein Drittel der Nordafrika­ner weg will – mit Frankreich als Hauptziell­and. Und einer Befragung des Pew Research Centers zufolge würden in Kenia und Ghana – zwei Hauptherku­nftsländer von afrikanisc­hen Migranten in Europa – rund drei Viertel der Menschen in ein anderes Land auswandern, wenn sie nur die Mittel dazu hätten.

Es kann anders kommen. Es gibt keine Gewissheit­en. Weshalb der Kontinent auch abwechseln­d zum Hoffnungst­räger hochgejube­lt oder als hoffnungsl­oser Fall bemitleide­t wird. Sicher ist: Es wird eng in Afrika.

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