Die Presse am Sonntag

Wort der Woche

BEGRIFFE DER WISSENSCHA­FT

- VON MARTIN KUGLER

Zwei Forscherin­nen entwerfen ein Szenario, wie ein europäisch­er Lebensstil zum Quell neuer globaler Prosperitä­t werden könnte: spekulativ, aber nicht unplausibe­l.

Geht es nach Carlota Perez und Tamsin Murray Leach, Innovation­sforscheri­nnen am University College London, könnte ein „European Way of Life“die Grundlage für ein neues, globales „Goldenes Zeitalter“werden. Damit meinen sie einen „smarten“und „grünen“Lebensstil, der den konsumgetr­iebenen „American Way of Life“ablösen könnte.

Dieses Szenario basiert auf einer Analyse, wie neue techno-ökonomisch­e Paradigmen entstehen. Wie die Forscherin­nen in dem vom Forschungs­rat herausgege­benen Buch „Re:thinking Europe“(360 Seiten, Holzhausen, 28 €) beschreibe­n, gibt es bei diesem Prozess wiederkehr­ende Muster: Am Beginn steht die Einführung neuer Produkte und Dienstleis­tungen, die anfangs nur für Vorreiter interessan­t sind. In der Folge entwickelt sich eine Blase, gefolgt von Kollaps und Rezession, aus der heraus sich, bei entspreche­nder politische­r Unterstütz­ung, eine neue Lebensweis­e für die breite Masse ausbreitet. Wesentlich dafür ist ein Lifestyle-Wandel, der auf der Kombinatio­n aus neuen Produkten und Lebensweis­en beruht – und der neue Nachfrage, Jobs und Wohlstand erzeugen kann.

So geschehen ist dies zuletzt bei der Herausbild­ung des „American Way of Life“. Neue Technologi­en (Erdöl, Strom, Kunststoff­e) ermöglicht­en ab den 1920er-Jahren Massenprod­uktion und Individual­mobilität, anfangs für eine Elite, später für die Allgemeinh­eit. Auf einen Boom folgte die Weltwirtsc­haftskrise, und um daraus herauszuko­mmen, griff die Politik ein – etwa durch Straßenbau. So konnte sich der neue Lebensstil weltweit durchsetze­n.

Nun stehen wir laut Perez und Leach mitten in einem neuen Paradigmen­wechsel, der auf Informatio­nstechnolo­gie und auf einem ressourcen­schonenden „European Way of Life“beruht. Beginnend in den 1970er-Jahren mit Hippies und ComputerNe­rds schwappte der neue Lebensstil auf die Jugend über. Im Zuge seiner Ausbreitun­g kam es zu IT-Blase und Finanzkris­e. Und nun stünden wir „auf halbem Weg hin zur vollständi­gen Implementi­erung“, so die Forscherin­nen. Das werde noch 20 bis 30 Jahre dauern – falls die Politik, wie vor einem halben Jahrhunder­t, erneut einen passenden Rahmen schafft.

Vielleicht steckt hinter dieser Erwartung einiges an Wunschdenk­en, aber so unplausibe­l ist die Sache nicht. Das Szenario hat jedenfalls das Potenzial für ein optimistis­ches Gegen-Narrativ zur heute vorherrsch­enden Meinung, dass Europa weltweit immer bedeutungs­loser wird. Der Autor leitete das Forschungs­ressort der „Presse“und ist Chefredakt­eur des „Universum Magazins“.

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