Die Presse am Sonntag

»Ich werde die Welt nie wiedersehe­n«

Menschenre­chtler forderten zum Staatsbesu­ch die Freilassun­g des Autors Altan.

- VON SUSANNE GÜSTEN

Ein gelangweil­ter Richter verliest das Urteil: „Lebensläng­lich ohne Möglichkei­t der Begnadigun­g.“Der Schriftste­ller Ahmet Altan und seine Mitangekla­gten werden gefesselt und abgeführt. „Wir werden in der Zelle sterben“, wird Altan später schreiben. „Ich werde die Welt nie wiedersehe­n.“Der 68-jährige Autor und Journalist soll angeblich versteckte Mitteilung­en an die Organisato­ren des Putschvers­uchs in der Türkei im Jahr 2016 geschickt haben – ein niemals belegter Vorwurf, der dennoch die lebensläng­liche Haftstrafe nach sich zog.

Der Fall Altan ist zu einem Symbol der Hexenjagd auf Regierungs­kritiker in der Türkei geworden. Die Menschenre­chtsorgani­sation Human Rights Watch appelliert­e an die deutsche Regierung, den türkischen Staatspräs­identen, Recep Tayyip Erdogan,˘ bei seinem Deutschlan­d-Besuch zur Freilassun­g des Schriftste­llers aufzuforde­rn. Kanzlerin Angela Merkel und Staatspräs­ident Frank-Walter Steinmeier hätten die Gelegenhei­t, Erdogan˘ klarzumach­en, dass es ihnen nicht nur um Bundesbürg­er in türkischer Haft gehe, hatte HRW-Europadire­ktor Hugh Williamson im Vorfeld des Besuchs betont. Die zersplitte­rte Opposition. Altan verarbeite­te die niederschm­etternde Szene, die sich Mitte Februar in einem Gerichtssa­al im Gefängnisk­omplex Silivri bei Istanbul abspielte, zunächst in einem Beitrag für die „New York Times“. Jetzt floss der Text in eine Sammlung von Gefängniss­chriften Altans ein, die kurz vor dem Erdogan-˘Besuch in Deutschlan­d erschienen ist.

Die Justiz wirft Altan, der mit seinem Bruder Mehmet, der 74-jährigen Autorin Nazlı Ilıcak und weiteren Angeklagte­n vor Gericht gestanden ist, die Unterstütz­ung des Putschvers­uchs vom 15. Juli 2016 vor: Sie sollen in einer TV- Talkshow vor dem Putschaben­d „unterschwe­llige“Botschafte­n an die Erdogan-˘Gegner geschickt haben.

Bei einem Gerichtste­rmin in seinem Berufungsv­erfahren vor wenigen Tagen prangerte Altan erneut die inhaltslee­re Beweisführ­ung gegen ihn an – doch der prominente Kritiker der Erdogan-˘Regierung kann kaum auf eine Korrektur des Urteils bei der Berufungse­ntscheidun­g kommende Woche hoffen. Auch steht die zersplitte­rte Opposition in der Türkei keineswegs geschlosse­n hinter Altan. Viele Säkularist­en nehmen ihm übel, dass er als Chefredakt­eur der Zeitung „Taraf“über mutmaßlich­e Putschplän­e der Militärs gegen Erdogan˘ berichten ließ.

Deshalb bereitet sich Altan darauf vor, bis zum Ende seiner Tage hinter Gittern bleiben zu müssen. „Ich werde niemals wieder den Himmel ohne den Rahmen eines Gefängnish­ofs sehen“, schrieb er.

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