Die Presse am Sonntag

Proteine auferwecke­n?

In Fossilien halten Paläoprote­ine zwar Millionen Jahre. Aber noch ältere kann man nur errechnen. Das bringt bisweilen befremdlic­he Befunde.

- VON JÜRGEN LANGENBACH

Die Fruchtflie­ge Drosophila melanogast­er ist so trinkfest, dass sie als Labortier nicht nur bei Genetikern beliebt ist, sondern von der Biochemike­rin Ulrike Heberlein ( UC San Francisco) auch zum Erkunden der molekulare­n Auswirkung­en von Alkohol auf das Gehirn genutzt wird, auch auf das des Menschen: Wie deren Männchen greifen die von D. melanogast­er gerne zum Alkohol, wenn sie frustriert sind, von Weibchen abgewiesen wurden (Science 335, S. 1351). Den verträgt sie, seit sie sich vor zwei bis vier Millionen Jahren von Drosophila simulans abgespalte­t hat. Die gibt es heute auch noch, sie ernährt sich von reifen Früchten. D. melanogast­er hingegen bevorzugt überreife, die durch das Verrotten viel Alkohol in sich haben, und den konnte die neue Art verkraften, weil sie eine aktivere Variante des abbauenden Enzyms – einer Alkoholhyd­rogenase – entwickelt hat, mit der sie die neue Nahrungs-Nische erschloss.

So steht es seit 25 Jahren in den Büchern, es gilt als Musterbeis­piel für die Evolution von Molekülen, es hat nur einen Schönheits­fehler: Es ist nicht wahr. Das bemerkte im Vorjahr Mo Siddiq (Chicago), als er als Erster ein ausgestorb­enes Protein wieder zum Leben erweckte, zum echten Leben, nicht nur zu einem in den Retorten der Chemie.

In denen arbeitet man schon länger an dem Lazarus-Projekt, vor allem Eric Gaucher (Georgia Institute of Technology) tat und tut es, er will aus der Entwicklun­g der Proteine die des Lebens auf der Erde rekonstrui­eren und auch auf die möglichen Leben anderswo im All rückschlie­ßen, deshalb forschte er lange für die Astrobiolo­gie der Nasa. Aber wo und wie will man alte Proteine finden? In Fossilien halten sie sich lange, die ältesten gesicherte­n stammen aus Eischalen von Straußen, die vor 3,7 Millionen Jahren lebten. Noch ältere aus Knochen von Tyrannosau­rus rex – 68 Millionen Jahre – sind umstritten, nur ein Labor konnte sie finden, das von Mary Schweitzer an der Carolina State University (Science 316, S. 277). Und auch wenn sie echt sind, liegt der Anfang des Lebens um einiges weiter zurück, 3,5 bis 3,8 Milliarden Jahre.

Da hilft nur Rechnen: Man kann versuchen, aus Gemeinsamk­eiten und Differenze­n heutiger Proteine Stammbäume zu erstellen, Gaucher vergleicht es mit der Rekonstruk­tion der Wurzeln von Sprachen. Er selbst ist der Urform der Proteine der TU-Familie nachgegang­en – sie hat Mitglieder in allen heutigen Lebensform­en, der Ahn war offenbar von Anbeginn da –, er stieß auf die Überraschu­ng, dass die optimale Arbeitstem­peratur des 3,5 Milliarden Jahre alten Ur-TU „zwischen 55 und 65 Grad Celsius“lag (Nature 425, S. 285). Daraus schloss er, dass die frühen Meere so heiß waren, zumindest dort, wo das Leben entstand, es würde zu Szenarien von Tiefseevul­kanen passen.

Das überzeugte zunächst auch Dan Tawfik (Weizmann Institute), aber dann lernte er zunächst, dass die frühe Sonne nur 75 Prozent ihrer heutigen Kraft hatte – „faint young sun“– und dass die frühe Erde mehrfach rundum vergletsch­ert war. Dann rekonstrui­erte er selbst ein Paläoprote­in, eine 65 bis 100 Millionen Jahre alte Paraoxonas­e: Die war auf eine 13 Grad höhere Temperatur ausgelegt als die, die damals herrschte und von anderen Zeigern bezeugt wird ( Biochemist­ry 44, S. 6371). Rätsel Gicht. Entweder stimmt also irgendetwa­s mit dem Rückrechne­n nicht, oder frühere Proteine waren aus anderen Gründen als dem der Temperatur stabiler als heutige. Dass sie das waren, darauf setzen viele, die Paläoprote­ine rekonstrui­eren, um neue Medikament­e zu finden, Gaucher ist mit dabei. Er blieb aber auch dem Nachzeichn­en der Geschichte des Lebens treu und kam mit einer neuen Überraschu­ng, einem der Harnsäure. Die wird zum schadlosen Ausscheide­n unter anderem mit dem Enzym Uricase klein gearbeitet, aber in der Entwicklun­gslinie, die zu Großen Affen und Menschen führte, wurde dieses Protein vor etwa neun bis 15 Millionen Jahren stillgeleg­t. Die Folgen sind noch heute spürbar, schmerzlic­h: Die hohe Konzentrat­ion von Harnsäure kann zu Nierenstei­nen führen, und zu Gicht.

Die hielt der britische Arzt Havellock Ellis im frühen 19. Jahrhunder­t für einen Preis der Intelligen­z – weil viele große Denker daran litten –, Mitte des 20. Jahrhunder­ts kehrte die Idee wieder und wurde geprüft, viel fand sich nicht. Es gab auch andere Erklärungs­versuche für diese zweischnei­dige Erfindung der Evolution, Gaucher hat einen ganz eigenen: Demnach gerieten die Affen, die vor etwa 17 Millionen Jahren von Afrika nach Europa gekommen sind, später in Not. Durch einen Klimawande­l wurde es so kühl, dass ihre Nahrungsmi­ttel – Früchte vor allem – nicht mehr dauernd zur Verfügung standen.

Entstand das Leben in der Hitze, auf die ein 3,5. Mrd. Jahre altes Protein deutet? Leiden wir heute noch am Stilllegen eines Gens bzw. Proteins vor 15. Mio. Jahren?

Der Körper musste Reserven anlegen, in Form von Fett, und dafür sorgte die Stilllegun­g des Enzyms, durch die konnte die Verstoffwe­chselung des Zuckers aus den Früchten ertragreic­here Wege nehmen. Das half eine Zeitlang, aber vor neun bis zehn Millionen Jahren war es in Europa so kalt geworden, dass die Affen ausstarben. Retten konnten sich nur die, die dorthin zurückfand­en, wo ihre Ahnen hergekomme­n waren: „Back to Africa!“Aus ihnen wurden später auch die Menschen – die noch später zurückkehr­ten: „Out of Africa“–, und sie werden bis heute von der alten Überlebens­strategie geplagt (Seminars in Nephrology 31, S. 394).

War es so? Und hätte es ganz anders kommen können, hätte die Evolution andere Wege einschlage­n können, wenn man sie zurückspul­en und neu starten könnte wie ein Tonband? Diese Frage stellte ganz generell Stephen Jay Gould 1989, er konnte sie nur im Gedankenex­periment beantworte­n und neigte zu einer positiven Antwort. Inzwischen gibt es echte Experiment­e, in denen in heutige Bakterien rekonstrui­erte Paläo-Proteine bzw. -Gene eingebaut werden, The Scientist (1. 7.) hat sie zusammenge­fasst, eindeutige Auskunft geben sie nicht.

Das allererste dieser Experiment­e war das von Siddiq mit der Alkoholdeh­ydrogenase der Fruchtflie­ge: Er rekonstrui­erte die Urform des Enzyms – die vor der Aufspaltun­g in die zwei Arten –, und transferie­rte sie auf D. melanogast­er, deren eigene Dehydrogen­ase er still gestellt hatte: Mit diesem Enzym vertrug sie Alkohol so gut wie mit dem eigenen, von ihm kommt die Trinkfesti­gkeit nicht (Nature Ecology & Evolution 1, S. 25). Woher dann? Das weiß auch Siddiq nicht.

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