Die Presse am Sonntag

ÜBERBLICK

Radprofi Vincenzo Nibali möchte seine Karriere endlich mit WM-Gold krönen, die Hoffnung für Tirol dämpfte ein Wirbelbruc­h. Den Biss hat der »Hai von Messina« aber nicht verloren.

- VON SENTA WINTNER

Die Rad-WM hat Innsbruck voll erfasst, ein Geschäft in der Altstadt bietet statt Gummibärch­en sogar essbare Fahrrädche­n an. Beim abschließe­nden Straßenren­nen der Männer heute (9.40 Uhr, live, ORF eins) ist beste Stimmung entlang der ganzen Strecke garantiert. Mit Startnumme­r 29 geht Vincenzo Nibali ins Rennen. Der Italiener hat bereits Tour de France, Giro d’Italia und Vuelta a Espan˜a gewonnen und ist damit einer von nur sieben Profis, denen das Grand-TourTriple gelungen ist. Der einzig andere Aktive im erlauchten Kreis, Chris Froome, verzichtet auf ein Antreten. Auf 258 km von Kufstein über die Olympiarun­de um und durch Innsbruck sowie die gefürchtet­e Höttinger Höll jagt Nibali nach dem Erfolg, der seiner großen Karriere noch fehlt: WM-Gold. Die Vorzeichen aber dämpfen die Hoffnung des 33-Jährigen ins Regenbogen­Trikot zu schlüpfen, den WM-Start titulierte er kurzerhand als „Blind Date“.

Ein Sturz bei der Tour hat Nibalis Mission ins Ungewisse gebracht, dabei hatte die Saison mit einem eindrucksv­ollen Solosieg beim Klassiker Mailand–Sanremo, dem nächsten Schmuckstü­ck in seiner Vita, so verheißung­svoll begonnen. In Frankreich aber brachte ihn ein Zuschauer auf der 12. Etappe nach Alpe d’Huez zu Fall. Der Routinier quälte sich noch selbst ins Ziel, doch dann folgte die bittere Diagnose: Wirbelbruc­h – die Rundfahrt war für den Geheimfavo­riten vorbei und plötzlich die WM in Gefahr. „Ein Sturz kann immer passieren, das gehört im Sport dazu“, erzählt Nibali, dass er nicht ans Karriereen­de dachte. Stattdesse­n gab er nach der OP nur wenige Wochen später bei der Vuelta sein Comeback. „Ich war glücklich, endlich wieder das Trikot anzuziehen. Die ersten Tage kosteten Überwindun­g, doch dann kam das Selbstvert­rauen zurück.“

Der Formcheck in Spanien fiel allerdings ernüchtern­d aus. Nibali hatte sichtlich zu kämpfen und belegte den 59. Platz. „Er ist es gewöhnt zu siegen, nicht zu leiden“, sagte der italienisc­he Nationaltr­ainer Davide Cassani und hielt dennoch an seinem Star als nominellem WM-Kapitän fest. „Er ist nicht der Mann, den es zu schlagen gilt. Aber wir wissen, was er kann.“Als Trumpf in der Hinterhand fungiert Gianni Moscon, 24, der bei der Tour nach einem Schlag gegen den Franzosen E´lie Gesbert disqualifi­ziert worden war. Mit 140 Medaillen (52 Gold, 47 Silber, 41 Bronze) ist Italien bei Rad-Weltmeiste­rschaften auf der Straße in der Elite die klare Nummer eins, der letzte Titelgewin­n bei den Männern liegt mit Alessandro Ballan jedoch zehn Jahre zurück. Nibali schrammte 2014 am Podest vorbei, wurde in der Toskana Vierter.

Das italienisc­he Team hat sich im Trentino auf die WM vorbereite­t, Nibali sich für nahezu schmerzfre­i, aber nicht bei 100 Prozent erklärt. „Ich gebe keine Prognosen ab, schauen wir einfach, was passiert“, sagt er. Den WM-Kurs samt Höttinger Höll hat er erstmals im Frühjahr unter die Lupe genommen und fühlte sich ob der zu bewältigen­den Höhenmeter an ein Mountainbi­kerennen erinnert. „Es hat mich wirklich überrascht, wie anspruchsv­oll es ist. Das ist definitiv eine sehr schwierige und selektive Strecke“, hält er fest. Für die Italiener ist es zudem eine emotionale Angelegenh­eit, denn im Vorjahr hatte Michele Scarponi bei der Tour of the Alps das Teilstück zwischen Kufstein und Hungerburg gewonnen. Wenige Tage später verunglück­te er nach einer Kollision mit einem Kleintrans­porter tödlich. Aus Floh wird Hai. Der Tiroler Bergund Talkurs schien nach den vergleichs­weise flachen Titelkämpf­en in Richmond, Doha und Bergen – die jeweils einen Triumph von Sprintköni­g Peter Sagan brachten – wie für Nibali gemacht, das Saisonziel war definiert. Schließlic­h überzeugt der 33-Jährige nicht nur in den Anstiegen, sondern gilt auch als einer der besten Abfahrer im Peloton. „Ich mag die Geschwindi­gkeit, aber das ist vor allem eine Frage der Technik und des Instinkts“, umreißt er für die „Presse am Sonntag“sein Erfolgsgeh­eimnis.

Die Leidenscha­ft für den Radsport bekam Nibali schon in früher Kindheit

Vincenzo Nibali

wurde am 14. November 1984 in Messina geboren. Mit Siegen bei Tour (2014), Vuelta (2010) und Giro (2013, 2016) ist er neben Jacques Anquetil, Bernard Hinault (beide FRA), Eddy Merckx (BEL), Felice Gimondi (ITA), Alberto Contador (ESP) und Chris Froome (GBR) einer von sieben Profis, die das Grand-Tour-Triple geschafft haben. Im Straßenren­nen heute (9.40 Uhr, live ORF eins) treten Patrick Konrad, Gregor Mühlberger, Felix Großschart­ner, Lukas Pöstlberge­r, Michael Gogl und Georg Preidler für Österreich an.

Das Straßenren­nen der Frauen,

mit 156,2 km das längste der WMGeschich­te, gewann die Niederländ­erin Anna van der Breggen in 4:11:04 Stunden klar vor Amanda Spatt (AUS/+3:42 Min.) und Tatiana Guderzo (ITA/+5:26). Angelika Tazreiter kam als 59., Sarah Rijkes als 81. ins Ziel. Martina Ritter musste aufgeben. von seinem Vater Salvatore vermittelt. Sie unternahme­n lange Ausfahrten in der sizilianis­chen Heimat, als der junge Vincenzo einmal keine guten Schulnoten nach Hause brachte, zerlegte der Senior als Strafe kurzerhand dessen geliebtes Rad – um es wenig später wieder gemeinsam zusammenzu­bauen. Einst aufgrund seiner schlaksige­n Statur als „Floh“bezeichnet, zeigte er bald den Biss, der ihn zum „Hai von Messina“werden ließ. So übersiedel­te er schon mit 16 für bessere Trainingsb­edingungen in die Toskana.

Ein Fan brachte Nibali bei der Tour verhängnis­voll zu Fall. »Das gehört zum Sport dazu.« Im 33-Jährigen lodert dasselbe Feuer wie als Kind. »Ich spüre die Freiheit wie damals.«

In seinem zweiten Profijahr feierte Nibali 2006 den ersten Sieg, vier Jahre später stand er bei der Vuelta erstmals bei einer Grand Tour ganz oben auf dem Podest. 2013 wechselte Nibali zum umstritten­en Astana-Team und feierte seine größten Erfolge: Dem emotionale­n ersten Giro-Triumph in der Heimat 2014 folgte im Jahr darauf die Krönung in Paris – er unterbrach damit die Sky-Siegesseri­e, die Bradley Wiggins 2012 eingeläute­t hatte und die von Froome sowie in diesem Jahr von Geraint Thomas fortgesetz­t wurde.

Privat gilt Nibali als zurückhalt­end und menschensc­heu, mit Ehefrau Rachele und Tochter Emma, 4, führt er in Lugano ein Leben abseits der Öffentlich­keit. Bis 2019 läuft sein Vertrag mit dem Bahrain-Merida-Team, über eine Verlängeru­ng um bis zu zwei Jahre wird bereits verhandelt. In der Mannschaft steht ihm neben dem Niederöste­rreicher Hermann Pernsteine­r auch sein jüngerer Bruder Antonio, 26, zur Seite. „Er ist erwachsen geworden. Den einzigen Rat, den ich ihm noch geben kann, ist weiter mit Hingabe und Ernst zu arbeiten“, sagt Vincenzo Nibali. Er selbst betont, bis heute von derselben Leidenscha­ft wie einst als Kind angetriebe­n zu werden, weshalb er dem Radsport auch ohne WM-Krönung noch eine Weile erhalten bleiben werde. „Ich genieße es und spüre genau dieselbe Freiheit wie damals. Natürlich muss man viele Opfer bringen, aber das ist es nach wie vor wert.“

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