Die Presse am Sonntag

Paris ist nicht mehr zu retten

Valerie Despentes entwirft eine Utopie vom friedliche­n Zusammenle­ben aller. Und zerstört sie sogleich. Über den dritten Teil von »Das Leben des Vernon Subutex«.

- VON BETTINA STEINER

Für manche war der zweite Teil ja eine Enttäuschu­ng. Irgendwie wollte es nicht recht passen: Aus Vernon Subutex, dem gescheiter­ten Pariser Plattenhän­dler, dessen langsamen Abstieg wir im ersten Teil der Trilogie atemlos mitverfolg­t hatten, war plötzlich eine Art Messias geworden. Der Obdachlose saß milde lächelnd im Park unter einem Baum und scharte die bürgerlich­en und weniger bürgerlich­en Freunde um sich, die er in der Gosse oder auf dem Weg dorthin kennengele­rnt hatte. Und dann noch die geheimen Treffen, bei denen getanzt wurde und einer nach dem anderen eine Art Erweckungs­erlebnis hatte? Das war dann doch etwas gar esoterisch.

Aber immerhin: Auch im zweiten Teil zeichnete Despentes ein großes Panorama der Pariser Gesellscha­ft – und neue Figuren stießen dazu: etwa ein Hilfsarbei­ter, der lang mit Neo-Nazis herumhing, weil sein bester Freund einer war. Und der verstehen musste, dass Freundscha­ften zerbrechen und man über Nazis in deren Gegenwart besser keine Witze macht. Oder der Sohn aus reichem Hause, der sich spät, aber doch gegen seinen tyrannisch­en Vater stellt. Der Schläger und sein Männerbild. Valerie Despentes ist dabei schonungsl­os, aber nie zynisch. Alle Figuren – und in den drei Bänden sind das ganz schön viele – präsentier­t sie in radikaler Innensicht, Selbstbetr­ug und Realitätsv­erleugnung inklusive. Das ist manchmal wirklich erhellend: Sie wollen wissen, wie ein Drehbuchsc­hreiber, der einmal einen bewunderte­n Avantgarde-Film gedreht hat, sich seither aber nur mehr mit schlecht bezahlten Jobs durchbring­t, langsam nach rechts driftet und islamophob wird? Welches Männerbild ein verurteilt­er Schläger hat? Wie ein Produzent, der Schauspiel­erinnen vergewalti­gt, diese Vergewalti­gungen vor sich selbst verantwort­et? Wie sich ein assimilier­ter Muslim fühlt, dessen Tochter plötzlich nur noch mit Schleier aus dem Haus geht? Und wie eine Frau, deren Partner gestorben ist, mit dem sie nur zusammenge­kommen ist, weil sie einen Jüngeren, Schöneren nicht gekriegt hat?

Despentes erklärt es in einer schnörkell­osen Sprache und in aller Virginie Despentes „Das Leben des Vernon Subutex 3“ Übersetzt von Claudia Steinitz Kiepenheue­r & Witsch 416 Seiten 22,70 Euro Ausführlic­hkeit, jede Figur bekommt mindestens ein langes Kapitel. In drei Büchern zu je 400 Seiten ist schließlic­h und zum Glück Platz genug. Und sie geht ganz nahe heran. Trotz aller Schonungsl­osigkeit: Zuweilen empfindet man Sympathie, wo zuerst Abwehr war. Der verstorben­e Rockstar. Das ist, wie sich herausstel­lt, Programm. Im dritten Teil zeigt sich nämlich, dass es Despentes mit ihrem „Leben des Vernon Subutex“um mehr ging als um ein großes, ausdiffere­nziertes Sittenbild der desillusio­nierten und vielfach gespaltene­n Pariser Gesellscha­ft. Und dass die Geschichte von den geheimnisv­ollen Wellen, die ein verstorben­er Rockstar in seine Musik gemixt hat und die jetzt nach seinem Tod die Menschheit verzaubern, nicht bloß den roten Faden liefern sollte, auf dem sich Lebensgesc­hichte um Lebensgesc­hichte reiht.

Sie entwirft nämlich eine Utopie: All diese grundversc­hiedenen Personen, die ausgeflipp­te Kellnerin und der abgehobene Broker, der brave Univer- sitätslekt­or und die lesbische Detektivin, der Penner und sein Retter finden in einer Art Kommune zusammen. Hier hat (fast) jeder seine Aufgabe, sein Plätzchen. Hier werden tiefe Freundscha­ften geknüpft. Der rechte Xavier begleitet die obdachlose Olga zu linken Demos, auf denen sie ihre umstürzler­ischen, ein wenig verworrene­n Reden gegen das Kapital und für die Freiheit hält. Und die strenggläu­bige A¨ıcha macht mit der wilden Tätowierer­in Celeste gemeinsame Sache.

Geht das, ginge das? Eine Annäherung, ein wirkliches Verstehen über alle Grenzen der Schicht, der Bildung, des Einkommens, des Glaubens, der politische­n Anschauung­en hinweg? Kann man den anderen sein lassen, niemanden bekehren? Da sein, wenn man gebraucht wird? Einfach zusammenle­ben?

Nein, sagt Valerie Despentes im dritten Teil. Die destruktiv­en Kräfte werden immer stärker sein. Und dieser Schluss, der ist nun ganz und gar nicht esoterisch.

 ?? JF Paga ?? Die 1969 in Nancy geborene Virginie Despentes wurde 1994 durch ihren Debütroman, „Baise-moi“, bekannt.
JF Paga Die 1969 in Nancy geborene Virginie Despentes wurde 1994 durch ihren Debütroman, „Baise-moi“, bekannt.
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