»Wer laut atmete, starb zuerst«
Kino. Ein Schülerlager wird zum Albtraum: Im beklemmenden Drama »Utøya 22. Juli« sieht Kino-Debütantin Andrea Berntzen dem echten Grauen ins Gesicht – sieben Jahre nachdem ein rechtsradikaler Terrorist in Norwegen 67 Menschen erschossen hat.
Es war ein Verbrechen, das nicht nur Norwegen, sondern ganz Europa, die ganze Welt, verändert hat. Am 22. Juli 2011 ermordete ein rechtsradikaler Terrorist fast 70 Schüler, die in einem Camp auf der kleinen Insel Utøya Ferien machten. Der norwegische Regisseur Erik Poppe hat nun versucht, das Schreckliche zu erzählen – und das aus der Sicht der Opfer. Den Täter bekommen wir nie wirklich zu sehen, sein Name wird gar nicht genannt. Denn es geht in diesem Film nicht um ihn und seine wirren Allmachtsfantasien, sondern um die, deren Leben durch seine Tat zerstört wurden. Die charismatische Newcomerin Andrea Berntzen spielt mit großer Ausdruckskraft die (fiktive) Schülerin Kaja, deren Überlebenskampf Poppe exemplarisch erzählt. Eine Rolle, die der Newcomerin Großes abverlangte, wie sie im Interview erzählt. Diese Rolle war sicher eine gewaltige Herausforderung, nicht nur physisch, sondern vor allem psychisch. Hatten Sie keine Angst vor einem Trauma? Andrea Berntzen: Zunächst war ich natürlich happy, dass ich in meinem ersten Film gleich die Hauptrolle bekomme. Aber klar kam dann sehr schnell die Angst vor dieser Aufgabe. Es ist nicht irgendein Film, sondern ein Film über den realen Albtraum von Teenagern, so wie ich einer bin. Beim Vorsprechen mussten wir mit einer Psychologin sprechen, die checken sollte, ob man mental stabil genug wäre, diese Rolle zu spielen. Ich habe sie gefragt, ob ich aus diesem Projekt überhaupt unbeschadet herauskommen kann. Und Sie waren sich dann sicher, dass es nicht so sein würde? Ja. Wenn ich daran gezweifelt hätte, hätte ich es sicher nicht gemacht. Die Psychologin meinte aber, schlimme Gefühle zu durchleben und diese auch zu zeigen ist nicht das, was uns traumatisiert – Schaden nimmt man immer nur dann, wenn man nachher nicht darüber spricht. Mir ist in dem Zusammenhang aber schon auch wichtig zu betonen, dass ich diese Figur immer noch nur spiele. Ich versuche, wie alle anderen am Film Beteiligten alles bestmöglich zu rekonstruieren, was auf der Insel passiert ist. Aber natürlich werde auch ich niemals völlig verstehen können, was es für die Teens, die das erleben mussten, wirklich bedeutete und wie sich das anfühlte. Niemand außer die, die dabei waren, wird das je können.
Am 22. Juli 2011
explodierte gegen 15.20 Uhr eine Autobombe im Regierungsviertel von Oslo, Norwegen. Acht Menschen starben. Das Chaos nutzend setzte der Täter mit einer Fähre zur Insel Utøya (30 km vor Oslo) über, auf der Feriencamps der Jugendorganisation der sozialdemokratischen Partei stattfanden. Dort eröffnete er das Feuer. Von 560 Personen starben 67 an Schusswunden, eine stürzte von einem Felsen in den Tod, eine ertrank beim Versuch schwimmend zu fliehen. Nach 72 Minuten wurde der Täter von einer Antiterroreinheit festgenommen. Was vom Dreh hat Sie danach noch am längsten verfolgt? Eigentlich eine recht bizarre Erfahrung mit mir selbst: Ich musste ja während der zweimonatigen Drehzeit täglich unglaublich viel vor der Kamera weinen. Das klingt vielleicht nach nicht viel Arbeit, aber glauben Sie mir, das war sehr hart und intensiv. Aber am letzten Drehtag ging einfach nichts mehr mit dem Weinen. Ich fühlte mich, als ob ich ausgewrungen gewesen wäre. Ich stellte mir die allerübelsten Dinge vor, aber nichts brachte mich mehr zum Weinen. An diesem Material zu arbeiten und auf einmal nicht mehr weinen zu können, ist schon verstörend. Hatten Sie auch Kontakt mit Überlebenden des Massakers? Ja, und das war mir auch sehr wichtig. Ich wollte, so gut es irgendwie ging, diese Geschichte, die ich da erzähle, verstehen lernen. Aber obwohl diese Überlebenden zur gleichen Zeit auf der gleichen Insel waren, waren ihre jeweiligen Erlebnisse unterschiedlich. Manche davon waren natürlich entsetzlich, wenn jemand etwa in direkten Kontakt mit dem Terroristen kam. Andere berichteten, dass sie sich einfach gemeinsam mit anderen in einer Höhle versteckten. Sie hörten Schüsse, hatten Angst, aber waren sich der Ernsthaftigkeit der Situation gar nicht so richtig bewusst. Waren auch beim Dreh Überlebende dabei? Drei von ihnen haben uns während des Entstehungsprozesses begleitet. Ich fand das sehr hilfreich, sie haben immer eingegriffen, wenn sie etwas unrealistisch fanden oder meinten, sie hätten dieses oder jenes sicher nie gemacht oder gesagt. Und sehr oft sagten sie uns, dass wir leiser atmen sollten. Denn wer zu laut atmete, starb als erster. Der Film ist sehr ungewöhnlich gefilmt und geschnitten – er besteht zum Großteil aus einem einzigen, 72-minütigen Take ohne Schnitte, der in einem Stück gedreht wurde. Hat es Sie sehr gestresst, dass da jeder kleine Fehler die ganze Aufnahme ruinieren kann? Klar, und gerade am Anfang mussten auch sehr viele Takes nur wegen mir geschmissen werden. Das wurde dann aber besser.