Die Presse am Sonntag

Brexit? Gestein gespalten!

Geologisch trennte sich die Insel vor 450.000 Jahren vom Kontinent. Aber ganz in der Tiefe blieb ihr Süden fest mit ihm verbunden.

- VON JÜRGEN LANGENBACH

Fog in Channel, continent cut off!“Mit diesem Aufmacher traf die britische „Times“vor langen Jahren das Selbstbewu­sstsein ihrer Leser, für die die Insel der Nabel der Welt war. 2007 nahm Philip Gibbard, Geograf in Cambridge, es auf und variierte es zu „Water in Channel“, in einem Begleitkom­mentar zur Publikatio­n der ersten starken Hinweise darauf, wann und wie die Insel zur Insel geworden war (Nature 448, S. 259). Diese stammte von Sanjeev Gupta (London), zehn Jahre später zog er mit breiteren Belegen nach, wieder in Nature, das publiziert­e nach eigenem Beteuern ganz zufällig just in der Woche, in der der von Theresa May unterzeich­nete Brief von London nach Brüssel gegangen war. Das nahm nun Gupta auf, selbstrede­nd auch aus geografisc­her Sicht eines Briten: „Ohne den Bruch der Landbrücke von Dover nach Calais wäre Großbritan­nien noch ein Teil von Europa. Das war der Brexit 1.0 – der Brexit, für den niemand votierte“(Nature Communicat­ions 8:15101).

Inzwischen sieht alles noch komplizier­ter aus: Nicht nur in der Politik, auch in der Geologie kommen Verwerfung­en der Tiefe erst allmählich ans Licht. Und diese zeigen jetzt, dass einerseits der Graben zwischen dem Kontinent und der Insel in der Nordsee immer tiefer wird, anderersei­ts Cornwall und weitere Teile Südengland­s unverbrüch­lich zu Europa gehören. Deshalb konnten vor 780.000 Jahren erste Menschen – vermutlich H. antecessor – trockenen Fußes die Region erwandern, sie ließen sich an der Mündung der Themse nieder ( Nature 466, S. 229).

Dann kam lang niemand mehr, erst vor 20.000 Jahren setzten wieder Menschen, H. sapiens diesmal, ihre Füße auf das, was inzwischen zur Insel geworden war, und sie konnten dies, weil die Eiszeit mit ihren Gletscherm­assen den Meeresspie­gel um 100 Meter gesenkt hatte, der Weg durch den Ärmelkanal war frei, er ist nur 30 bis 50 Meter tief. Trotzdem ist er eine der wichtigste­n Handelsstr­aßen der Erde.

Aber er sperrt Verkehr auch ab, den am Land, deshalb gab es lang schon Pläne für eine Verbindung durch Tun- nel, in den 1960er-Jahren begannen an der engsten Stelle, zwischen Calais und Dover, Sondierung­en des Bodens. Sie stießen auf Überraschu­ngen, die die Trassenfüh­rung erschwerte­n, riesige Löcher im Gestein, kilometerl­ang, Hunderte Meter tief und doch kaum sichtbar, weil mit Sediment verfüllt. Man nannte sie „Fosse Dangeard“– „fosse“kommt vom französisc­hen Wort für „Graben“, „Dangeard“vom Namen eines Geologen, der am Grund des Ärmelkanal­s Spuren urzeitlich­er Flüsse bemerkt hatte –, und 1985 kam Alec Smith (London) auf eine Idee, wie sie entstanden sein könnten: Es habe einmal einen mächtigen Kalksteing­rat zwischen Dover und Calais gegeben.

Und dieser sei durch Wasser zu Fall gebracht worden, dessen Wucht – die Fluten waren vermutlich die stärksten in der Erdgeschic­hte – die Fosse geschlagen und im weiteren Verlauf den Ärmelkanal geformt hat (Marine Geology 64, S. 65). Das war umstritten, manche Forscher setzten auf eine langsame Entstehung durch Erosion, Konsens herrschte aber darüber, dass der Kanal nicht sehr alt ist – in geologisch­en Zeiträumen –, und dass es die Nordsee auch nicht ist. Diese war lang ein Binnensee, der von Flüssen wie Themse und Rhein gespeist wurde, ihre heutige Gestalt bekam sie vor 8000 Jahren, nach der letzten Eiszeit. Weiße Felsen von Dover. Eiszeiten kommen und gehen seit zwei, drei Millionen Jahren, und eine sorgte vor 450.000 Jahren dafür, dass das Wasser des Sees – der später zur See wurde – nicht länger nach Nordwesten in den Atlantik fließen konnte, Gletscher über Skandinavi­en und England hatten sich vereint und versperrte­n den Weg. Also stieg das Wasser und stieg und stieg, bis der Kalkstein im Kanal nicht mehr standhielt, die Flut fegte viel hinweg. Teile blieben stehen, sie verschwand­en bei einem zweiten, ähnlichen Ereignis vor 160.000 Jahren, nur die weißen Felsen von Dover sind geblieben.

Nun entwässert­en Themse und Rhein durch den Kanal, er war ein Flusstal, aber vor 125.000 Jahren stieg der Atlantik so hoch, dass sein Wasser einströmte. Seitdem ist die Insel Insel. Aber nur partiell und nur an der Oberfläche, viel früher war an der Formung der Region auch die Plattentek­tonik am Werk, die von Alfred Wegener 1915 bemerkte großflächi­ge Wanderung ganzer Teile der Erdkruste, die die Oberfläche zu immer neuen Kontinente­n zusammensc­hob und dann wieder zerriss. Durch sie entstand auch Großbritan­nien, nach bisheriger Lehrmeinun­g durch den Zusammenpr­all der Urkontinen­te Avalonia und Laurentia, der eine war einst mit Afrika verbunden, der andere mit Amerika – Fossilien belegen es –, nun stießen sie ungefähr dort aufeinande­r und verhakten sich dort miteinande­r, wo dies heute England und Schottland tun.

Aber noch einer war im Spiel: Man weiß lange schon, dass es im Süden Englands Bodenschät­ze gibt, die es im Norden nicht gibt, aber in Frankreich. Und nun ist dem Petrologen Arjan Dijkstra (Plymouth) in noch größerer Tiefe etwas aufgefalle­n: Er hat in Cornwall und Devon Proben von Gesteinen gezogen, durch die sich vor 300 Millionen Jahren Adern eines Lavagestei­ns zogen, Lamphrophy­re. Diese sind oft Spuren einer Subduktion – einer Kollision zweier Erdplatten, bei der eine sich unter die andere schiebt –, und Isotopen von Strontium und Neodymium

»Der Bruch der Landbrücke war der Brexit 1.0 – der Brexit, für den niemand votierte.« »Vor Millionen Jahren waren die Bande zwischen England und Frankreich noch enger.«

bestätigte­n den Verdacht: Vor den 300 Millionen Jahren dockte an den Süden von England noch ein Urkontinen­t an, Armorica, auf ihm fußt auch Frankreich (Nature Communicat­ions, 14. 9.). „Wir haben immer gewusst, dass man vor 10.000 Jahren von England nach Frankreich gehen konnte“, schließt Dijkstra: „Aber unsere Befunde zeigen nun, dass Millionen Jahre früher die Bande noch viel enger waren.“

Sie sind es geblieben, dafür werden andernorts, in der Nordsee, die Gräben zwischen Insel und Kontinent immer tiefer. Dort sinkt der Boden, man wusste es, aber er sinkt mit viel höherer Geschwindi­gkeit, als bisher vermutet, Jashar Arfai (Hannover) hat es aus Kratzspure­n eiszeitlic­her Gletscher im Gestein gelesen, die ein Datieren des Alters ermögliche­n (Scientific Reports 8:11524): „Der Meeresbode­n hat sich im Quartär bis zu 1100 Meter gesenkt.“Das macht rasende 42 Zentimeter pro Jahrtausen­d. Man sieht auch das nicht leicht, weil es durch Sedimente der Flüsse ausgeglich­en wird. Vor allem deren drückende Last sorgt geologisch für den immer tiefer klaffenden Riss.

Newspapers in German

Newspapers from Austria