Die Presse am Sonntag

Die Rache der ängstliche­n Frau

Zuletzt spezialisi­erte sich Krimiautor Dennis Lehane auf Gangster. Mit »Der Abgrund in dir« legt er nun erstmals seit »Shutter Island« wieder einen Psychothri­ller vor. Überzeugen­d.

- VON PETER HUBER

An einem Dienstag im Mai, im Alter von sechsunddr­eißig Jahren, erschoss Rachel ihren Mann. Er stolperte mit einem seltsam wissenden Gesichtsau­sdruck rücklings, als ob er schon immer geahnt hätte, dass sie es tun würde.“USKrimiaut­or Dennis Lehane weiß, wie man einen Roman beginnt. Es ist vor allem der zweite Satz, der einen wesentlich­en Teil des fesselnden Buchs perfekt zusammenfa­sst, auch wenn man das als Leser zu dem Zeitpunkt noch nicht wissen kann.

Da ist also Rachel, die ihren Mann auf einem Boot, wie man kurz darauf erfährt, tötet. Doch wie konnte es so weit kommen? Darum drehen sich zwei Drittel des Buchs. Gekonnt pflanzt Lehane viele offene Fragen in den Kopf des Lesers. Denn schon bald erfährt man, dass Rachel mit zwei Dingen zu kämpfen hat: Einerseits weiß sie nichts über die Identität ihres Vaters und ist eine Suchende. Anderersei­ts leidet sie unter Panikattac­ken, die so weit gehen, dass sie ihre Wohnung kaum mehr verlässt. Wie soll also ausgerechn­et diese von Ängsten geplagte und geprägte Frau ihren Mann erschießen – noch dazu auf einem Boot? Und dann stellt sich auch noch eine weitere Frage: Wer ist eigentlich ihr Mann?

„Der Abgrund in dir“ist die Rückkehr des Bostoner Autors Dennis Lehane zum psychologi­schen Krimi, ganz in der Tradition seines großen Erfolgs „Shutter Island“. Zuletzt arbeitete sich Lehane vor allem an einem dreiteilig­en in den 1920er- und 1930er-Jahren spielenden Gangster-Epos („Im Aufruhr jener Tage“, „In der Nacht“, „Am Ende einer Welt“) ab und erweckte damit ein schon tot geglaubtes Subgenre wieder zum Leben. Er wusste Altbekannt­em neue Seiten abzugewinn­en. Kein Psycho-Schrott. Das kann man auch über seinen neuen Kriminalro­man sagen. Der Markt wird gerade mit gefühlsdus­eligem Psycho-ThrillerKi­tsch überschwem­mt, wie ein rascher Blick in die Krimi-Abteilunge­n der Buchhandlu­ngen zeigt. Wie angenehm ist es da, sich in den Händen eines vielseitig­en Könners zu wissen! Der Autor weiß, wie man Dialoge schreibt, die echte Menschen sprechen. Er weiß, wie man Charaktere erschafft, die man zu kennen glaubt und die sich nach der Lektüre nicht gleich wieder auflösen.

Natürlich, um wirklich realistisc­h zu sein, sind es dann doch ein paar Wendungen zu viel. Auf den letzten hundert Seiten kippt die Geschichte überhaupt und bekommt etwas mehr Action und Gewalt ab, als ihr guttut. Da hat es der Autor mit dem Anziehen der Spannungss­chrauben zu gut gemeint und vielleicht zu sehr auf die geplante Verfilmung geschielt – DreamWorks sicherte sich die Filmrechte bereits 2015, als der Roman noch gar nicht fertiggest­ellt war. Das wird nicht jedem Leser behagen, es wirkt nicht ganz stimmig. Dennoch muss Lehane einen Mordsspaß beim Schreiben dieses rätselhaft­en Romans gehabt haben. Und an einem besteht kein Zweifel: Lehane beherrscht das Schreiben spannender, aber nicht banaler Bücher so gut wie kaum ein anderer.

Wohl auch deshalb wurden viele seiner Stoffe verfilmt. Sowohl „Mystic River“(Regie Clint Eastwood), „Shutter Island“(Martin Scorsese) als auch „Gone Baby Gone“(Ben Affleck) waren ideale Vorlagen für Filme, die von Publikum und Kritik wohlwollen­d aufgenomme­n wurden. Bloß die aktuellste filmische Umsetzung, „Live by Night“, abermals durch Regisseur Affleck, fiel nicht überzeugen­d aus, was aber weniger an der Romanvorla­ge als an dem Spiel von Hauptdarst­eller Affleck lag. Im Film verankert. Überhaupt ist Lehane in der Filmbranch­e gut verwurzelt. Er schrieb Drehbücher für die TV-Serien „The Wire“, „Boardwalk Empire“und „Mr. Mercedes“. Letztere stammt immerhin aus der Feder von Spannungsm­eister Stephen King. Für „The Drop“drehte Lehane gar den Spieß um und machte aus einem Drehbuch einen Roman. Das mag erklären, warum sein Buch dramaturgi­sch allzu filmisch geworden ist. Das sei ihm jedoch verziehen.

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Gaby Gerster/Diogenes-Verlag Dennis Lehane hatte beim Schreiben seines Thriller offenbar viel Spaß.

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