Das Paradies, bewohnt von »wilden Tieren«
Bayern wählt. Bayern feiert. 100 Jahre existiert der Freistaat. Das Dirndl sitzt, Bayern ist reich, die CSU regiert. Und das war schon immer so. A so ein Schmarrn! Am Anfang steht ein roter Revoluzzer – noch dazu ein gebürtiger Berliner. Und auch sonst is
Friedrich Nicolai war Publizist, er war ein Kind der Aufklärung – und er war ein „Preiß“. Als der Berliner in den 1780ern nach Bayern reiste, rümpfte er die Nase. Die Menschen dort fand er mehrheitlich „dummbigott“. Die „elenden frömmelnden Müßiggange“irritierten ihn genauso wie das Aussehen der Männer mit ihren „Habichtsnasen, zurückgeschobenen Stirnen und zurückweichenden Kinnen“. Auch Nicolais König Friedrich II. urteilte aus der Ferne, Bayern sei das „irdische Paradies“, aber leider bewohnt von „wilden Tieren“. Das katholische Bayern war für die protestantischen Preußen sozusagen die Weltzentrale für Rückständigkeit. Ein weit verbreitetes Vorurteil damals.
Es dauerte nicht lang, da pflegten die Bayern selbst das Klischee vom urigen Volk, das vor einer Kulisse aus Alpen und Märchenschlössern den ganzen Tag über im Dirndl oder der Krachledernen jodelt oder schuhplattelt oder nach dem Reinheitsgebot gebrautes Bier zapft. Denn dieses Postkartenmotiv stiftete Identität, und es gefiel Nicolais Landsleuten, den „Preißn“. Der Fremdenverkehr floss gen Bayern. Und tut das bis heute. Ein PR-Coup.
Doch dieses Bayern-Bild ist zumindest heillos unvollständig. Es unterschlägt, wie wandelbar dieser Vielvölkerstaat trotz aller Brauchtumspflege immer schon war und ist. Das sei in diesen Tagen erwähnt, da sich ein politisches Erdbeben ankündigt: Am 14. Oktober droht der CSU bei der BayernWahl der Verlust der absoluten Mehrheit – zum erst zweiten Mal in 61 Jahren an der Macht. Ein Traditionsbruch. Wobei auch hier das zeitgleiche Jubiläumsjahr versichert, dass es im Freistaat schon ein politisches Leben ohne die und vor der CSU gab.
Just ein Sozialist, noch dazu gebürtiger Berliner, steht am Anfang der Republik. Weshalb sich die CSU trotz aller „100 Jahre Freistaat“-Feiern mit diesem Kurt Eisner plagt, einem Journalisten und anfänglichen roten Reformer, der zum Revolutionär mutierte.
Auf der Theresienwiese war am 7. November 1918 demonstriert worden. Und Pazifist Eisner erspürte den historischen Moment. Er zog weiter. Zu den Kasernen. Das ganze Land war in diesen Tagen von einer Kriegsmüdigkeit erfasst, aber zuvorderst die Soldaten. Der König floh. Ein handstreichartiger Umsturz. Ohne Blutvergießen.
Doch es nahm kein gutes Ende – weder mit Bayerns erstem Ministerpräsidenten Eisner noch mit seiner jungen Republik. Die Bayern wählten Eisners Partei 1919 in die Bedeutungslosigkeit (2,5 Prozent). Kurz darauf wurde er erschossen. Im rechtsextremen Motiv seines Mörders kündeten sich schon die dunklen Jahre an, die vor Bayern lagen. Gar nicht so frei. Die bayrische Kleinpartei SPD will Eisner im heurigen Jubeljahr ehren und einen eigenen Feiertag zum 100er. Das ist der CSU dann doch zu viel. Und es verwundert. Denn Pazifist Eisner war ein Abtrünniger. Er hatte sich mit seiner radikalen USPD abgespalten. Denn die Mehrheit der SPD verlangte keine Revolution. Sie billigte die Einführung einer parlamentarischen Monarchie, wie sie Ludwig III. Tage vor dem Umsturz zugestanden hatte. „Das war ein ungeheuerlicher Schritt des Königs“, sagt die Münchner Historikerin Katharina Weigand. Brauchte es noch eine Revolution? Eisners Werk ist bis heute umstritten.
Von ihm bleibt jedoch der Satz: „Bayern ist fortan ein Freistaat!“Hier scheint sich eine privilegierte Stellung anzudeuten, mit der CSU-Politiker heute gern kokettieren. Ein Mythos. Freistaat meinte nur: Republik, also frei von Monarchie – nicht: frei von Berlin. Hier gewährt kein Statut Sonderrechte. Der Begriff Freistaat, auch von Sachsen und Thüringen geführt, macht Bayern nicht eigenständiger als die anderen 15 Bundesländer. Also auf dem Papier.
Doch die bayrische Sonderrolle speist sich (neben Finanzkraft und CSU) eben auch aus einer „mehr als 1000-jährigen Geschichte“, wie sie in Bayerns Landesverfassung beschworen wird. Man war eben ein historischer Koloss, der sich kurze Zeit im 10. Jahrhundert gar bis zur Adria ausdehnte.
Das Klischee mit dem bergverliebten Trachtenvolk ist indes vergleichsweise jung. Die Schönheit der Alpen malten erst die Romantiker. Bis dahin waren die Berge vor allem ein Ort der Gefahr. Und die Tracht? Was der Bayer heute als unveränderbares Kleidungsstück glorifiziert, war, böse formuliert, schon im 18. Jahrhundert in der Mottenkiste verschwunden. „Es gab andere, billigere Stoffe“, sagt die Historikerin Weigand. Die späten Monarchen aus dem Hause Wittelsbach kramten
Die Tracht war schon lang abgelegt, als sie das Königshaus neu erfand.