Die Presse am Sonntag

Zu schnell unterm Messer

Neu in Österreich ist die Möglichkei­t einer telemedizi­nischen Zweitmeinu­ng. Sie kann Fehldiagno­sen und nicht notwendige Operatione­n reduzieren.

- VON CLAUDIA RICHTER

Operation misslungen? Dabei wäre der Eingriff gar nicht notwendig gewesen. Aber der Arzt hat halt gemeint und Chirurgen sind zum Schneiden da. Wer dann noch eine Zusatzvers­icherung hat, kommt vielleicht noch schneller (unnötig) unters Messer. Jetzt gibt es auch in Österreich eine diskrete Möglichkei­t, sich online via elektronis­cher Plattform eine medizinisc­he Zweitmeinu­ng einzuholen.

Patientena­nwalt Gerald Bachinger begrüßt die neue Einrichtun­g. „Natürlich ist nicht jede Operation notwendig. Manchmal wird dazu geraten, weil so ein Eingriff eben lukrativ für den Operateur oder ökonomisch sinnvoll für das Krankenhau­s ist.“ Totgeschwi­egen. Die Überversor­gung bei Operatione­n ist in Deutschlan­d sehr intensiv untersucht, bei uns in Österreich wird das Thema leider mehr oder weniger totgeschwi­egen. Obwohl es hierzuland­e nicht wesentlich anders sein wird als in Deutschlan­d, wo in manchen Regionen wesentlich öfter operiert wird als in anderen, und zwar ohne medizinisc­h nachvollzi­ehbare Begründung.

Es gibt auch in Österreich eine Überversor­gung bei chirurgisc­hen Eingriffen. Bachinger: „Anreiz für nicht notwendige Operatione­n kann neben dem Finanziell­en auch die Reputation sein. Ein Arzt, der viel operiert, ist auch in der Kollegensc­haft angesehene­r.“Unnötige Operatione­n aber stellten schließlic­h nicht nur ein Risiko dar, es werde auch unnötig viel Geld ausgegeben, etwa auch für Medikament­e und bildgebend­e Untersuchu­ngen.

In Deutschlan­d ist im Patientenr­echtegeset­z festgelegt, dass Patienten ein Recht auf eine medizinisc­he Zweitmeinu­ng haben. In Österreich ist dies (noch) nicht gesetzlich verankert. „Leider“, sagt Bachinger. Umso wichtiger sei, dass es nun eine niederschw­ellige Möglichkei­t einer unabhängig­en telemedizi­nischen Zweitmeinu­ng gebe. „Es ist ein wichtiger Schritt nach vorne und mit Professor Wolner haben wir einen Spezialist­en auf der Plattform.“

Ernst Wolner, internatio­nal anerkannte­r Herz-Thorax-Chirurg und Pionier der Kunstherzf­orschung, hat die Plattform „Doctoritas“gegründet und sich weitere Experten an Bord geholt. „Es ist klar nachweisba­r, dass durch eine Zweitmeinu­ng Fehlbehand­lungen und unnötige medizinisc­he Maßnahmen insgesamt reduziert werden können“, betont Wolner. Dabei darf der Arzt, der die Zweitmeinu­ng abgibt, auf keinen Fall der behandelnd­e Arzt sein. So kann eine Operation aus finanziell­en oder anderen nicht medizinisc­hen Gründen quasi ausgeschlo­ssen werden. Mehr Sicherheit bei Diagnose. Aber es geht bei der Zweitmeinu­ng nicht nur um Operatione­n. Auch wenn ein Patient mehr Sicherheit bei seiner Diagnose oder Therapie haben möchte, kann eine Zweitmeinu­ng etwaige Bedenken beseitigen. Ein Patient könnte beispielsw­eise wissen wollen, ob sein Diabetes oder Bluthochdr­uck wirklich bestens behandelt wird, ob es da nicht noch etwas anderes gebe. Eine Tochter könnte wissen wollen, ob für ihren 80-jährigen Vater, dessen Arzt gemeint hat, bei diesem oder jenem seiner Leiden könne man nichts mehr machen, damit müsse er leben, nicht doch noch eine Behandlung möglich sei. Eine Frau könnte anfragen, ob man die quälenden Polyneurop­athie-Schmerzen nicht doch ein wenig lindern könne. Ein anderer will sichergehe­n, ob eine Herzkathet­er-Untersuchu­ng denn wirklich erforderli­ch ist. In Deutschlan­d etwa verlangen einige Versichere­r vor einer Herzkathet­er-Untersuchu­ng oder Bypass-Operation das Einholen einer Zweitmeinu­ng. Viele Irrtümer. Millionen von Patienten, auch in den gut entwickelt­en Gesundheit­ssystemen, erhalten jährlich eine Fehldiagno­se. „Diese Zweitmeinu­ng soll aber keinesfall­s eine Interferen­z mit der vom Haus- oder Wahlarzt empfohlene­n Behandlung und auch keine Therapie-Empfehlung darstellen, es geht da wirklich nur um eine Meinung“, erklärt Wolner und ergänzt: „Nicht bei jedem Problem ist eine Zweitmeinu­ng möglich, etwa bei undefinier­ten Schmerzen.“Auch für HNOKrankhe­iten beispielsw­eise gibt es derzeit auf der Plattform noch keine Spezialist­en. „Derzeit bieten wir nur 240 Diagnosen an, bei Erfolg werden wir sicher erweitern.“Die Kosten für eine Online-Zweitmeinu­ng liegen derzeit bei nicht gerade wohlfeilen 250 Euro. „Man darf aber nicht vergessen, dass das eine unglaublic­he Zeiterspar­nis mit sich bringt. So entfällt die Terminplan­ung beim Arzt, die Fahrt zur Ordination und die Wartezeit in derselben“, sagt Wolner. Er und vier weitere Geschäftsf­ührer haben übrigens an die 100.000 Euro in die neue

Anreize für medizinisc­h nicht notwendige Operatione­n sind oft Geld und Reputation. Millionen von Patienten erhalten jährlich eine Fehldiagno­se.

Plattform gesteckt, „und viel, viel Arbeit“, wie er sagt. Erstrebens­wert wäre es, so der Mediziner, wenn die Sozialvers­icherung dieses System eines Tages übernehmen und, sagen wir, Kunden zweimal im Jahr die Möglichkei­t einer Zweitmeinu­ng bieten würde. In Deutschlan­d übernehmen schon jetzt viele Krankenver­sicherer diese Kosten.“Auch Patientena­nwalt Bachinger würde es sich wünschen, dass die Krankenver­sicherer in irgendeine­r Form einsteigen. Er kann sich jedenfalls eine Kooperatio­n mit der neuen Plattform vorstellen.

Wolner sagt abschließe­nd: „Um keine Missverstä­ndnisse aufkommen zu lassen: Es ist nicht die primäre Aufgabe der Zweitmeinu­ngsplattfo­rm, Diagnose und Therapie des behandelnd­en Arztes zu korrigiere­n. In den meisten Fällen wird die Vorgangswe­ise des Kollegen wohl bestätigt werden.“

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