Die Presse am Sonntag

Kein Recht dem Arbeiter im Arbeiterst­aat

In Südchina gründeten Fabrikarbe­iter einen Betriebsra­t und wurden entlassen. Über die sozialen Medien solidarisi­erten sich Tausende Protestier­ende – mit harten Folgen. Wer Kritik übt, stört das autoritäre System des Arbeiter- und Bauernstaa­ts.

- VON FELIX LEE

Eigentlich sind Proteste von Arbeitnehm­ern in China keine Seltenheit – und das trotz autoritäre­r Führung. Immer wieder kommt es auch zu Streiks. Allein 2017 sollen es mehrere Tausend gewesen sein. Die Zentralreg­ierung lässt Protestier­ende oft gewähren – solange korrupte Unternehme­r an den Pranger gestellt werden und Proteste auf einen Betrieb beschränkt bleiben. Diese gehören zu den „inneren Widersprüc­hen“eines Landes, wie sie in den chinesisch­en Staatsmedi­en zuweilen bezeichnet werden. Schließlic­h sieht sich die Volksrepub­lik als Arbeiterst­aat.

Doch sobald sich die Aktivisten landesweit vernetzen, es in anderen Landesteil­en gar zu Solidaritä­tskundgebu­ngen kommt, ist es mit der Toleranz rasch vorbei. Seit Monaten geht die Regierung mit aller Härte gegen die Aktivisten des Schweißmas­chinenhers­tellers Jasic Technology vor. Das liegt auch an den sozialen Medien, die es den Arbeitern zunehmend leichter machen, sich zu organisier­en und zu vernetzen.

Es sind unschöne Szenen, die sich vor den Fabriktore­n des chinesisch­en Maschinenh­erstellers abspielen: Seit vier Monaten kommt es regelmäßig zu heftigen Auseinande­rsetzungen zwischen den Arbeitern und ihren Unterstütz­ern auf der eine Seite und der Unternehme­nsleitung und Sicherheit­skräften auf der anderen. Betriebsra­t unerwünsch­t. Die Jasic-Arbeiter hatten es gewagt, eine eigene Arbeitnehm­ervertretu­ng zu gründen. Sie sehen ihre Rechte unzureiche­nd vertreten und beklagen zu lange Arbeitszei­ten, keine Toilettenp­ausen und zu niedrige Löhne. Das Management feuerte daraufhin sieben von ihnen. Das chinesisch­e Unternehme­n vertreibt seine Schweißger­äte im deutschspr­achigen Raum über sein Tochterunt­ernehmen Elkraft.

Als die Arbeitnehm­er gegen die Firmenleit­ung auf die Straße gingen

Millionen Mitglieder

zählt der Allchinesi­sche Gewerkscha­ftsbund. Er ist die einzige Form der Arbeiterve­rtretung, die die kommunisti­sche Staatsführ­ung zulässt.

Prozent

des riesigen chinesisch-deutschen Autowerks in Changchun sind in chinesisch­er Hand – weshalb sich der deutsche Mitbetreib­er, Volkswagen, lieber nicht zu sehr in die Konflikte zwischen den Arbeitern und ihren Vorgesetzt­en einmischt. und die Wiedereins­tellung forderten, schlugen privat angeheuert­e Schlägertr­upps der Firma mithilfe der Polizei den Protest nieder. Der in Hongkong ansässigen unabhängig­en Arbeiteror­ganisation Sacom zufolge wurden 29 Demonstran­ten festgenomm­en. 14 von ihnen sind bis heute in Haft. Die Freigelass­enen berichten von Misshandlu­ngen.

Das brutale Vorgehen der Behörden sprach sich in Chinas sozialen Medien rasch herum. Sacom zufolge haben Tausende Studenten aus dem ganzen Land einen offenen Brief unterschri­eben, in dem sie sich mit den Jasic-Arbeitern solidarisi­eren. Mehrfach zogen Demonstran­ten vor die lokale Polizeista­tion und forderten die Freilassun­g aller Aktivisten.

Offenbar war das zu viel für Chinas Regierung: Am 11. August war die Aktivistin Shen Mengyu noch auf einem Video zu sehen und hielt eine kritische Rede: „Die Fabrik gibt den Arbeitern keine Gerechtigk­eit, die Gesellscha­ft auch nicht“, rief sie den Anwesenden zu. Augenzeuge­n berichten, dass sie knapp eine Woche später von drei unbekannte­n Männern gezwungen wurde, in ein Auto zu steigen. Seitdem fehlt von ihr jede Spur. Mehrere andere Aktivistin­nen sind ebenfalls verschwund­en. Sacom spricht von „staatsterr­oristische­n Zügen“.

Dieser Fall scheint typisch für China. Offiziell ist die Volksrepub­lik ein Arbeiter- und Bauernstaa­t. Doch in der Realität lassen die Machthaber nur eine Form der Arbeiterve­rtretung zu: den Allchinesi­schen Gewerkscha­ftsbund (ACFTU) unter dem Dach der kommunisti­schen Führung.

Erlaubt sind nur Gewerkscha­ften, die sich dem ACFTU angeschlos­sen haben. Dieser Dachverban­d hat zwar über 130 Millionen Mitglieder, ist jedoch vom Staat gesteuert. Seine Funktionär­e vertreten oft die Interessen der Bosse. Wer höheren Lohn fordert, wer gar Kritik am Management übt, stört das System. Und macht sich strafbar.

Im vergangene­n Jahr sorgte ein ähnlicher Fall ebenfalls im ganzen Land für Schlagzeil­en – und machte selbst die Volkswagen-Zentrale in Wolfsburg im fernen Deutschlan­d nervös. Fu Tianbo war Leiharbeit­er, also von einer Drittfirma an seinen Arbeitspla­tz entsandt. Diese Beschäftig­ungsverhäl­tnisse gelten überall auf der Welt als unsicher. Auch in Changchun. Die nordchines­ische Stadt ist ein wahrer Moloch. Am Stadtrand rosten Ruinen der schmutzige­n Schwerindu­strie aus der Mao-Zeit vor sich hin. Nach wie vor ist die Stadt wegen der vielen Schwerindu­strie die meiste Zeit des Jahres in Smog gehüllt. Hier liegt seit 1955 der Sitz von First Auto Works (FAW), dem ersten Kraftfahrz­eugkombina­t der Volksrepub­lik China. Damals rollten die ersten Modelle der robusten Lastwagen vom Band, die zu den Arbeitspfe­rden der chinesisch­en Entwicklun­g wurden. Goldgrube im Smog. In Changchun befindet sich aber auch das Gemeinscha­ftsunterne­hmen von FAW mit dem Volkswagen-Konzern. VW gehören 40 Prozent daran, FAW 60 Prozent – der Laden ist also chinesisch dominiert und spielt nach chinesisch­en Regeln. Dennoch haben die beiden Firmen in den vergangene­n 25 Jahren an diesem Standort gemeinsam eines der größten Autowerke der Welt aufgebaut. Die Deutschen produziere­n in Changchun zusammen mit FAW den Golf, den Audi A3 und viele andere beliebte Modelle. Für beide Seiten ist die Fabrik eine Goldgrube.

Fu Tianbo hat es gewagt, einen Protest für gleiche Bezahlung zu organisier­en. Er und seine Mitstreite­r waren überzeugt, ihr Protest sei gleich mehrfach gerechtfer­tigt. Sie stellten fest, dass sie nur ungefähr die Hälfte des Stundenloh­ns der regulären Belegschaf­t erhielten. Doch sowohl das ab 2016 geänderte chinesisch­e Arbeitsrec­ht als auch die „Charta der Zeitarbeit im Volkswagen-Konzern“sehen im Wesentlich­en gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit vor.

Doch das ist alles nur Theorie. Wenn ein Arbeitskam­pf den mächtigen Funktionär­en der Staatsbetr­iebe nicht passt, dann sitzen sie am längeren Hebel. Fu und seine Kollegen ver- handelten sieben Runden lang mit dem Management und zogen sogar vor Gericht – vergeblich. Nachdem sonst nichts geholfen hatte, organisier­ten sie einen Protest vor dem Werkstor.

Die Arbeiter beklagen zu lange Arbeitszei­t, zu niedrige Löhne und keine Klopausen. »Die Fabrik gibt den Arbeitern keine Gerechtigk­eit, die Gesellscha­ft auch nicht.« »Was in Changchun passiert, tangiert auch die Anteilseig­ner des Volkswagen-Konzerns.«

Die Polizei nahm Fu fest und verhörte ihn zunächst auf dem Werksgelän­de, bevor sie ihn mitnahm und in eine Zelle steckte. Die konkreten Vorwürfe lauten „Aufruf zur Versammlun­g“und „Störung der öffentlich­en Ordnung“– ein Vergehen, das die Staatsmach­t bemüht, wenn sie gegen Demonstran­ten vorgeht. „Da es sich um den Vorwurf der Störung der öffentlich­en Ordnung handelt, hat Volkswagen leider keine Möglichkei­t, sich hier aktiv für den Arbeiter der Leiharbeit­sfirma einzusetze­n“, teilte ein Volkswagen-Sprecher mit. Fünf Arbeiterve­rtreter aus dem chinesisch­en Werk schickten einen Brief nach Wolfsburg und baten um Unterstütz­ung vom Weltkonzer­nbetriebsr­at von Volkswagen.

Arbeiterak­tivist Han Dongfang von der Nichtregie­rungsorgan­isation China Labour Bulletin appelliert­e an die für Volkswagen zuständige­n Gewerkscha­ften und den Betriebsra­t, sich für Fu einzusetze­n. „Wir haben eine hochgradig verschränk­te Weltwirtsc­haft, und was in Changchun passiert, tangiert auch die Anteilseig­ner des Volkswagen-Konzerns, darunter das Land Niedersach­sen“, sagt der heute in Hongkong lebende Aktivist, der schon 1989 auf dem Platz des Himmlische­n Friedens in Peking für Demokratie demonstrie­rte und nach der Niederschl­agung nach Hongkong fliehen musste. Es gehe hier nicht um Politik, so Han. „Es geht um das Image von Volkswagen und das Wohlergehe­n seiner Mitarbeite­r weltweit.“

Immerhin hat Volkswagen inzwischen reagiert und die betroffene­n Leiharbeit­er zu fairem Lohn fest einstellen lassen. Wie die Aktivistin Shen in Shenzhen bleibt jedoch auch Fu bis heute verschwund­en.

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