Dreißigminütiger Spaziergang durch eine Kampfzone
Ein Virtual-Reality-Projekt dokumentiert den blutigsten Tag des Maidan. Der Protest wird Teil der ukrainischen Erinnerungskultur.
Für Serhij Mertschuk beginnt der Morgen des 20. Februar 2014 mit einer Tasse Tee in der Feldküche des Malteserordens auf dem Kiewer Maidan. Wenig später ist an ein Frühstück nicht mehr zu denken. Der Sturm der Sicherheitskräfte beginnt. Die Aktivisten stellen sich ihnen auf der Institutska-Straße entgegen. Mertschuk versucht mit anderen Männern, eine Böschung zu erklimmen. In den kommenden drei Stunden werden 50 Menschen im Kugelhagel sterben: 47 Demonstranten, drei Polizisten. „Äste fielen auf uns herab, so heftig wurde geschossen“, erinnert sich Mertschuk.
Mertschuk ist einer der Protagonisten von „Aftermath VR: Euromaidan“, einer virtuellen Realität, die den blutigsten Tag der dreimonatigen MaidanProteste dokumentiert. „Es war eine beispiellose Tragödie“, sagt Projektleiter Alexej Furman, der den Wendepunkt der Maidan-Bewegung als Fotojournalist miterlebte. „So etwas vergisst man nicht. Das bleibt ein Leben lang.“
Was Furman mit Regisseur Serhij Poleschaka und einem Dutzend weiterer Mitarbeiter entwickelt hat, bleibt ebenfalls lang im Gedächtnis. Um die Maidan-Revolution vor fünf Jahren zu erleben, benötigt man eine VR-Brille und zwei Fernbedienungen, mit deren Hilfe man Schritt für Schritt die hügelige Institutska-Straße erklimmt und Befehle gibt: Vor dem Auge erscheinen Zeitzeugen wie Serhij Mertschuk oder der damalige Journalist Mustafa Najem, dessen Facebook-Post zur ersten Kundgebung am Abend des 21. November führte. Typische Gegenstände aus den Protesttagen wie selbst gebastelte Schilder und Helme tauchen auf. Original-Clips werden eingespielt.
Was also ist die Maidan-VR? Ein 30-minütiger Spaziergang durch einen Schauplatz aus Sicht der Protestierenden. Teils Dokumentation, teils Rekonstruktion. Eine dreidimensionale Oberfläche wie in einem Computerspiel, aber ohne Spielelemente. „Virtuelle Erfahrung“, „immersives Storytelling“– so nennt es der 27-jährige Kiewer. 200.000 Aufnahmen. Mehr als 200.000 Fotos des Schauplatzes haben die Projektmitarbeiter aufgenommen und in ein dreidimensionales Modell eingearbeitet. Acht Monate dauerte dieser Prozess. „Fotografieren ging nur an bewölkten Tagen, und es durften keine Autos zu sehen sein. Uns blieben also nur die Wochenenden, frühmorgens, wenn es keine Proteste gab“, erzählt Furman grinsend und verweist damit auf die Rolle des Platzes als Versammlungsort. Auf dem Maidan erinnern heute Schautafeln an die Ereignisse des Winters 2013/14. Gleichzeitig ist er ein Ort des Bürgerprotests geblieben.
Das Projekt, das derzeit im Rahmen der Kunstausstellung „Revolutionize“im Kiewer Arsenal zu sehen ist und dessen Endfassung im Februar 2019 präsentiert wird, will ein umfassendes Bild der Ereignisse bieten. Denn obwohl es viele Fotos und Videos vom 20. Februar gibt, seien die Eindrücke sehr „episodisch“, meint Furman. Das habe die Mythenbildung – etwa von angeblichen Snipern – beflügelt. „Unsere sehr enzyklopädische Darstellung lässt keinen Raum dafür“, sagt der Journalist. „Wir zeigen, was passiert ist.“ Zeitreise in den Februar 2014: Die virtuelle Realität von „Aftermath VR: Euromaidan“macht es möglich. Maidan-Museum. Was damals passiert ist, die Vorfälle und ihre Folgen, sind nunmehr Gegenstand der ukrainischen Populär- und Erinnerungskultur. In der genannten Schau „Revolutionize“verarbeiten Künstler den Triumph der Zivilgesellschaft. Veröffentlicht wurden Filme, Romane, Memoirs – etwa Marci Shores Maidan-Erzählung aus der Sicht ihr nahestehender Protagonisten mit dem Titel „The Ukrainian Night“. Weiter oben an der Institutska-Straße soll dort, wo jetzt eine Baugrube ist, das Museum der Revolution der Würde entstehen, nach einem Entwurf des Berliner Architekturbüros Kleihues+Kleihues. Exponate werden bereits gesucht. Der Maidan wird musealisiert, wird Teil des kollektiven Gedächtnisses.
Die Institutska-Straße, deren unteres Teilstück als Referenz an die Gefallenen in „Allee der Himmlischen Hundertschaft“umbenannt wurde, wirkt schon dieser Tage wie ein Freilichtmuseum. Bilder der Toten reihen sich entlang, davor Blumensträuße, aufgetürmte Pflastersteine, Reste von Barrikaden. Als Fotograf verbrachte Alexej Furman hier im Winter 2013/14 viele Tage. Er sah Verletzte, Tote. Der 27-Jährige mied den Ort lange Zeit. Erst die für das VR-Projekt notwendige Dokumentation zwang ihn zur Rückkehr. „Das Projekt hat mir geholfen, mein Trauma zu verarbeiten“, sagt er.