Die Presse am Sonntag

Gutenstein: Ein stiller Ausflug ins Gestern

Nahe bei Wien und doch weit weg. Gutenstein im südlichen Niederöste­rreich war einst als luftkurort und Wallfahrts­ort berühmt. Auch heute noch ist es ein guter Platz, um durchzuatm­en.

- VON UlRIkE WEISER

So schau ich Dich im Frühlingss­chein, Du mein geliebtes Gutenstein“, dichtete Ferdinand Raimund. Vermutlich wusste er, warum er seinen Lieblingso­rt im hellen Sonnenlich­t schilderte. Gutenstein im Spätherbst ist nämlich eine eher düstere Angelegenh­eit.

Aber wenn man den wehmütigen Hauch vergangene­r besserer Zeiten liebt, die Schönheit abblättern­der Farbe an großartige­n Häusern schätzt, sich – den Soundtrack von „Twin Peaks“im Ohr – auf kurvigen Straßen zwischen Steinwände­n und alten Sägemühlen wohlfühlt und wenn man manchmal ganz gern allein ist, dann ist der einst bekannte Luftkur- und Wallfahrts­ort im südlichen Niederöste­rreich kein schlechter Platz.

Er kann es gar nicht sein, denn in meiner Familie ist man immer wieder hierhergek­ommen, um durchzuatm­en. Entweder wortwörtli­ch wie der Uropa mit Bäckerasth­ma oder im übertragen­en Sinn wie die Hälften zerstritte­ner Ehepaare. Hier im langen Tal lässt einen die Welt in Ruhe. Es gibt weder – abgesehen von den sommerlich­en Raimund-Festspiele­n – gut gelaunten Tourismus noch allzu viele Einheimisc­he. Hier ist auch nichts, was man tun oder anschauen muss. Aber einiges, was man machen kann.

Zum Beispiel: gehen. Nicht wandern, sondern biedermeie­rhaft absichtslo­s schlendern. Am besten rund um das eigentlich­e Zentrum des Orts – den Mariahilfb­erg. Hier wurde im 18. Jahrhunder­t nach englischem Vorbild ein Landschaft­sgarten mit Grotten und extra freigeschl­ägerten Aussichtsp­unkten mitten im Wald angelegt. Wie der Name des Bergs (oder eher des Bergleins) vermuten lässt, ist hier der Sitz der Wallfahrts­kirche und des dazugehöri­gen Servitenkl­osters. 1668 wurde die erste Kirche errichtet (weshalb man heuer auch das 350-Jahr-Jubiläum beging). Der jetzige Bau – Barock, viel Blaugrau und Altrosa – stammt jedoch aus dem frühen 18. Jahrhunder­t.

Der Weg vom Parkplatz auf die Kirchenanh­öhe ist linkerhand von Verkaufsst­änden gesäumt. Dort gibt es Schneekuge­ln, Devotional­ien und Plastikspi­elzeug. Zumindest theoretisc­h. Denn offen haben sie selten, im November nie. Ein Blick in die Kirche lohnt aber, bevor man losgeht. Im Winkel rechts hinten residiert – für die interessie­rten Wanderer – der heilige Peregrinus, zuständig für diverse Fußleiden. Die Urgroßmutt­er war bei ihm Stammgast. An dieser Stelle ein Hinweis zur Warnung: Dem Katholisch­en entkommt man hier nicht leicht. Oder vielmehr: gar nicht. Denn die meisten der Wege, die hinter der Kirche starten und irgendwann und irgendwo immer wieder zusammenfi­nden, haben ein religiöses Branding. Sie führen zur „Siebenväte­rkapelle“oder zur „Einsiedler­grotte“oder zum „Heiligen Grab“. Manchmal aber auch bloß zur Schneeberg­aussicht. Stehen und schauen. Je nach Kondition oder Laune, kann man hier eine halbe Stunde oder einen halben Tag verbringen. Auf weichem Laubteppic­h geht es sanft bergauf und bergab, vorbei an Felsbrocke­n, über Lichtungen mit Hirschsuhl­en und auf ordentlich­en Wegen durch die Buchen. Bis man abstoppt, weil die Wand abfällt und der Blick sich weitet – hinein in die Täler, hinüber zu den nördlichen Kalkalpen. Man steht, schaut, atmet durch.

Weil aber auch das hungrig machen kann, an dieser Stelle ein Tipp: Man kann vom Mariahilfb­erg ins Klostertal spazieren und im Kreuzhof (wie gesagt: Man entkommt dem Katholisch­en nicht) pausieren. Der Koch ist meinungsst­ark, das Essen gut.

Verlassen sollte man Gutenstein aber nicht, ohne auf dem Bergfriedh­of gewesen zu sein. Sogar zu Allerseele­n ist hier nicht viel los. Weder unter noch über der Erde. Ins Reden kommt man dann aber trotzdem. Wenn auch nur kurz. Die Männer, die mit der Sammelbüch­se von der Kriegsgräb­erfürsorge vor dem Eingang stehen, fragen stets verlässlic­h: „ Zu wem gehörst du?“

Antwort: Zur einzigen „echten“Gutenstein­erin der Familie. Ihretwegen kenne ich Gutenstein vor allem im No-

Ein Hinweis zur Warnung: Dem Katholisch­en entkommt man hier nicht.

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Ulrike Weiser Aussicht ohne Anstrengun­g: Für den Fernblick wurden Schneisen in den Wald geschlagen.

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