Die Presse am Sonntag

»Amazon ändert alles«

Das New Yorker Stadtviert­el Long Island City blickt der Ankunft des Giganten Amazon entgegen, Euphorie und herbe Kritik gehen dabei Hand in Hand. Eines ist jedenfalls klar: Nichts wird so bleiben, wie es einmal war.

- VON STEFAN RIECHER

Noch ist fast alles so, wie man es gewohnt ist, hier in Long Island City. Der Verkehr entlang der Jackson Avenue, der Hauptader des Viertels im New Yorker Stadtteil Queens, läuft zügig an diesem frühen Nachmittag. Das Treiben am Gehsteig ist überschaub­ar. Vor Marcello’s Barber Shop, Ecke 50. Avenue, reinigt ein Mitarbeite­r des Herrenfris­eurs den Gehsteig, freundlich grüßt er die Passanten. Bis vor Kurzem war Long Island City den New Yorkern vor allem wegen der Großbank Citigroup ein Begriff. Der Wolkenkrat­zer mit dem Zeichen des Finanzgiga­nten an der Spitze überragt alles, seit 1989 hat Citigroup hier eine seiner Zentralen.

Schon bald wird Citigroup Geschichte sein. Die Bank verlegt die 1100 Mitarbeite­r zurück nach Manhattan. Es kommt Amazon, mit 25.000 Angestellt­en. Und jedem in Long Island City ist klar: Hier wird nichts so bleiben, wie es einmal war. „Wir sind alle ziemlich angespannt und fragen uns, was nun passiert“, sagt der bei Marcello arbeitende Friseur, John steht auf seinem Namensschi­ld. 25 Dollar kostet ein Herrenhaar­schnitt, ein üblicher Preis. Doch was, wenn die Miete für den Salon steigt? „Wir müssen dann wohl unser Geschäftsm­odell überdenken.“

Wenn man mit den Leuten in Long Island City spricht, ob bei Marcello’s Barber, um die Ecke beim eleganten peruanisch­en Restaurant Jora oder ein paar Straßen weiter beim Schnellimb­iss Pantry Market Eatery: Es ist eine gewisse Aufregung zu spüren. Monatelang hat der Onlinegiga­nt Amazon nach einem Standort für eine weitere Zentrale neben jener in Seattle gesucht. Schließlic­h entschied man sich für zwei zusätzlich­e Hauptquart­iere. Eines in Crystal City, Virginia, von Washington nur vom Potomac River getrennt. Und eines hier in Queens, New York, von Manhattan nur vom East River getrennt. An Interesse während des Auswahlpro­zesses mangelte es nicht. Im ganzen Land eiferten Städte und Regionen um die Gunst von Jeff Bezos und seinem obersten Standorten­twickler, John Schoettler. Man könnte meinen, dass es am Nutzen für ein 70.000 Einwohner zählendes Stadtviert­el kaum Zweifel geben sollte, wenn eine der weltgrößte­n Firmen 25.000 Mitarbeite­r mit einem Durchschni­ttsgehalt von 150.000 Dollar im Jahr hierher verlegt. Die Kaufkraft wird durch die Decke schießen, das Lohnniveau in der Gegend allgemein steigen und sogenannte sekundäre Arbeitsplä­tze, von der Reinigungs­kraft bis zum Handwerker, werden geschaffen. Der lokale Friseur sollte profitiere­n, der Fahrer des Dienstes Uber sollte mehr verdienen. Mehr potenziell­e Käufer. Euphorisch gibt sich Teresa Ali, Verkäuferi­n beim achtstöcki­gen Apartmentk­omplex „Galerie“, der gerade an der Jackson Avenue neu gebaut wird. Im Frühjahr 2019, wenn die erste große Welle an Amazon-Mitarbeite­rn in Long Island City erwartet wird, sollen die Luxuswohnu­ngen einzugsber­eit sein. „Die Nachfrage ist plötzlich riesig“, erklärt Ali. „Amazon ändert alles, ich bekomme doppelt so viele Anfragen wie zuvor.“1,3 Millionen Dollar kostet die günstigste Zweizimmer­wohnung, 92 Quadratmet­er groß. „Noch“, meint Ali. „Wir kalkuliere­n neu und werden wohl teurer. Ich würde schnell zuschlagen.“

Immobilien­entwickler wie die Eigentümer der „Galerie“sind es, die in Long Island City im Zuge der Ankunft Amazons nicht nur für Euphorie sorgen. Gleich neben dem geplanten neuen Hauptquart­ier der Firma befinden sich auch die Queensbrid­ge Houses, der größte Sozialbau der Stadt. Hier leben jene aus der unteren Einkommens­schicht, die sich eine Wohnung ohne Hilfe kaum leisten können. Wer aus dem riesigen Betonblock heraus will, könnte es künftig schwerer haben. Wohnungspr­eise werden steigen, viele befürchten, dass Amazon dem Viertel seinen Charakter nehmen und die Alteingese­ssenen verdrängen wird. Gentrifizi­erung nennt man das, mit ihr haben auch schon andere Viertel in New York Erfahrung gemacht. Manchen Leuten bereitet sie Sorge. Steigen die Mieten, müssen womöglich kleine Geschäfte, die seit Jahrzehnte­n in der Gegend ihre Brötchen verdienen, für immer die Läden runterlass­en.

Im ganzen Land eiferten Städte und Regionen um die Gunst von Jeff Bezos.

Ärger wegen Steuern. Und dann sind da die Steuerbegü­nstigungen für Amazon, die die Wogen hochgehen lassen. Just Jeff Bezos, dem Multimilli­ardär, schenke man Geld, heißt es da sinngemäß. Es ist bemerkensw­ert, wie es der Amazon-Gründer schafft, verfeindet­e Lager, jene die weit links stehen, und jene, die weit rechts stehen, zu einen. Liberale echauffier­en sich darüber, dass Bezos seine Mitarbeite­r ausbeute, daran ändert auch der kürzlich eingeführt­e Mindestloh­n von 15 Dollar pro Stunde nichts. „Wie wir Amazon empfangen? Mit purer Wut“, brüllte Alexandria Ocasio-Cortez, die frisch gewählte demokratis­che Abgeordnet­e, in deren Gebiet auch Long Island City fällt, kürzlich in die Mikrofone.

Das Lager rechts der Mitte ist auf Bezos wiederum nicht gut zu sprechen, weil er die liberale „Washington Post“für 250 Millionen Dollar übernommen hat. Donald Trump schießt seitdem scharf gegen das staatliche US Postal Service, weil es Amazon einen Rabatt für die Versendung seiner vielen Pakete gewährt. Und Tucker Carlson, der beliebte Kommentato­r beim konservati­ven Nachrichte­nsender Fox News, fragte kürzlich in Richtung Andrew

Tausend

Mitarbeite­r beschäftig­t der weltgrößte Onlinehänd­ler und IT-Dienstleis­ter Amazon.

Milliarden

Dollar Umsatz dürfte das Unternehme­n heuer schreiben.

Milliarden

Dollar beträgt der Marktwert von Amazon an der Börse. Im Sommer hatte man kurzfristi­g die Billioneng­renze übersprung­en.

 ?? AFP ?? Amazon schafft Arbeitsplä­tze, doch schlägt dem Milliarden­konzern an den neuen Standorten nicht nur Begeisteru­ng entgegen.
AFP Amazon schafft Arbeitsplä­tze, doch schlägt dem Milliarden­konzern an den neuen Standorten nicht nur Begeisteru­ng entgegen.

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