»Amazon ändert alles«
Das New Yorker Stadtviertel Long Island City blickt der Ankunft des Giganten Amazon entgegen, Euphorie und herbe Kritik gehen dabei Hand in Hand. Eines ist jedenfalls klar: Nichts wird so bleiben, wie es einmal war.
Noch ist fast alles so, wie man es gewohnt ist, hier in Long Island City. Der Verkehr entlang der Jackson Avenue, der Hauptader des Viertels im New Yorker Stadtteil Queens, läuft zügig an diesem frühen Nachmittag. Das Treiben am Gehsteig ist überschaubar. Vor Marcello’s Barber Shop, Ecke 50. Avenue, reinigt ein Mitarbeiter des Herrenfriseurs den Gehsteig, freundlich grüßt er die Passanten. Bis vor Kurzem war Long Island City den New Yorkern vor allem wegen der Großbank Citigroup ein Begriff. Der Wolkenkratzer mit dem Zeichen des Finanzgiganten an der Spitze überragt alles, seit 1989 hat Citigroup hier eine seiner Zentralen.
Schon bald wird Citigroup Geschichte sein. Die Bank verlegt die 1100 Mitarbeiter zurück nach Manhattan. Es kommt Amazon, mit 25.000 Angestellten. Und jedem in Long Island City ist klar: Hier wird nichts so bleiben, wie es einmal war. „Wir sind alle ziemlich angespannt und fragen uns, was nun passiert“, sagt der bei Marcello arbeitende Friseur, John steht auf seinem Namensschild. 25 Dollar kostet ein Herrenhaarschnitt, ein üblicher Preis. Doch was, wenn die Miete für den Salon steigt? „Wir müssen dann wohl unser Geschäftsmodell überdenken.“
Wenn man mit den Leuten in Long Island City spricht, ob bei Marcello’s Barber, um die Ecke beim eleganten peruanischen Restaurant Jora oder ein paar Straßen weiter beim Schnellimbiss Pantry Market Eatery: Es ist eine gewisse Aufregung zu spüren. Monatelang hat der Onlinegigant Amazon nach einem Standort für eine weitere Zentrale neben jener in Seattle gesucht. Schließlich entschied man sich für zwei zusätzliche Hauptquartiere. Eines in Crystal City, Virginia, von Washington nur vom Potomac River getrennt. Und eines hier in Queens, New York, von Manhattan nur vom East River getrennt. An Interesse während des Auswahlprozesses mangelte es nicht. Im ganzen Land eiferten Städte und Regionen um die Gunst von Jeff Bezos und seinem obersten Standortentwickler, John Schoettler. Man könnte meinen, dass es am Nutzen für ein 70.000 Einwohner zählendes Stadtviertel kaum Zweifel geben sollte, wenn eine der weltgrößten Firmen 25.000 Mitarbeiter mit einem Durchschnittsgehalt von 150.000 Dollar im Jahr hierher verlegt. Die Kaufkraft wird durch die Decke schießen, das Lohnniveau in der Gegend allgemein steigen und sogenannte sekundäre Arbeitsplätze, von der Reinigungskraft bis zum Handwerker, werden geschaffen. Der lokale Friseur sollte profitieren, der Fahrer des Dienstes Uber sollte mehr verdienen. Mehr potenzielle Käufer. Euphorisch gibt sich Teresa Ali, Verkäuferin beim achtstöckigen Apartmentkomplex „Galerie“, der gerade an der Jackson Avenue neu gebaut wird. Im Frühjahr 2019, wenn die erste große Welle an Amazon-Mitarbeitern in Long Island City erwartet wird, sollen die Luxuswohnungen einzugsbereit sein. „Die Nachfrage ist plötzlich riesig“, erklärt Ali. „Amazon ändert alles, ich bekomme doppelt so viele Anfragen wie zuvor.“1,3 Millionen Dollar kostet die günstigste Zweizimmerwohnung, 92 Quadratmeter groß. „Noch“, meint Ali. „Wir kalkulieren neu und werden wohl teurer. Ich würde schnell zuschlagen.“
Immobilienentwickler wie die Eigentümer der „Galerie“sind es, die in Long Island City im Zuge der Ankunft Amazons nicht nur für Euphorie sorgen. Gleich neben dem geplanten neuen Hauptquartier der Firma befinden sich auch die Queensbridge Houses, der größte Sozialbau der Stadt. Hier leben jene aus der unteren Einkommensschicht, die sich eine Wohnung ohne Hilfe kaum leisten können. Wer aus dem riesigen Betonblock heraus will, könnte es künftig schwerer haben. Wohnungspreise werden steigen, viele befürchten, dass Amazon dem Viertel seinen Charakter nehmen und die Alteingesessenen verdrängen wird. Gentrifizierung nennt man das, mit ihr haben auch schon andere Viertel in New York Erfahrung gemacht. Manchen Leuten bereitet sie Sorge. Steigen die Mieten, müssen womöglich kleine Geschäfte, die seit Jahrzehnten in der Gegend ihre Brötchen verdienen, für immer die Läden runterlassen.
Im ganzen Land eiferten Städte und Regionen um die Gunst von Jeff Bezos.
Ärger wegen Steuern. Und dann sind da die Steuerbegünstigungen für Amazon, die die Wogen hochgehen lassen. Just Jeff Bezos, dem Multimilliardär, schenke man Geld, heißt es da sinngemäß. Es ist bemerkenswert, wie es der Amazon-Gründer schafft, verfeindete Lager, jene die weit links stehen, und jene, die weit rechts stehen, zu einen. Liberale echauffieren sich darüber, dass Bezos seine Mitarbeiter ausbeute, daran ändert auch der kürzlich eingeführte Mindestlohn von 15 Dollar pro Stunde nichts. „Wie wir Amazon empfangen? Mit purer Wut“, brüllte Alexandria Ocasio-Cortez, die frisch gewählte demokratische Abgeordnete, in deren Gebiet auch Long Island City fällt, kürzlich in die Mikrofone.
Das Lager rechts der Mitte ist auf Bezos wiederum nicht gut zu sprechen, weil er die liberale „Washington Post“für 250 Millionen Dollar übernommen hat. Donald Trump schießt seitdem scharf gegen das staatliche US Postal Service, weil es Amazon einen Rabatt für die Versendung seiner vielen Pakete gewährt. Und Tucker Carlson, der beliebte Kommentator beim konservativen Nachrichtensender Fox News, fragte kürzlich in Richtung Andrew
Tausend
Mitarbeiter beschäftigt der weltgrößte Onlinehändler und IT-Dienstleister Amazon.
Milliarden
Dollar Umsatz dürfte das Unternehmen heuer schreiben.
Milliarden
Dollar beträgt der Marktwert von Amazon an der Börse. Im Sommer hatte man kurzfristig die Billionengrenze übersprungen.