Die Presse am Sonntag

Wort der Woche

BEGRIFFE DER WISSENSCHA­FT

- VON MARTIN KUGLER

Dioxin und verwandte Stoffe gelten als die stärksten Gifte, die der Mensch jemals hergestell­t hat. Obwohl seit Langem verboten, sind sie weiterhin eine Gesundheit­sgefahr.

Spätestens seit dem Unfall in einer Chemiefabr­ik im norditalie­nischen Seveso 1976 ist Dioxin ein Gottseibei­uns der modernen Zeiten: Diese Substanz gilt als das stärkste je vom Menschen hergestell­te Gift. Schon in extrem geringen Mengen löst sie schwere Vergiftung­serscheinu­ngen aus – von vermindert­er Spermienqu­alität über Chlorakne bis hin zu Nervenund Leberschäd­en. Die Substanz ist so giftig, dass es bisher nicht einmal möglich war, eine für den Menschen tödliche Dosis zu ermitteln. Erstmals im Labor synthetisi­ert wurde Dioxin – chemisch: 2,3,7,8-TCDD (Tetrachlor­dibenzo-1,4-dioxin) – 1957 vom deutschen Chemiker Wilhelm Sandermann. Im großen Stil hergestell­t wurde die teuflische Substanz niemals, aber sie tritt als Nebenprodu­kt in der Chlorchemi­e auf und entsteht beim unsachgemä­ßen Verbrennen chlorhalti­gen Mülls (und in kleinen Mengen bei Waldbrände­n).

Verwandte Substanzen, die nicht so giftig sind (polychlori­erte Biphenyle; PCB), wurden indes auch industriel­l eingesetzt, etwa als Trafo-Öle oder als Weichmache­r. Seit 2001 sind PCB weltweit verboten, auch die Chlorchemi­e ist sauberer geworden. Dennoch befinden sich Dioxin und dioxinähnl­iche PCB weiterhin in der Umwelt – in Deutschlan­ds Böden lagern geschätzte 250 Kilo Dioxin. Diese Moleküle sind langlebig, fettlöslic­h, reichern sich in der Nahrungske­tte an und landen in Milchprodu­kten, Fleisch und (fettem) Fisch.

Das klingt ungesund – und laut einer eben veröffentl­ichten Studie der EU-Lebensmitt­elsicherhe­itsbehörde EFSA ist es das auch: Die Experten kamen bei einer Neubewertu­ng zu dem Schluss, dass Schäden nur dann ausgeschlo­ssen werden können, wenn wir weniger als zwei Pikogramm (Billionste­l Gramm) Dioxin und Co. pro Woche und Kilo Körpergewi­cht zu uns nehmen. Dieser Wert ist siebenmal niedriger als bisherige Grenzwerte.

Das hat – zumindest auf dem Papier – eine dramatisch­e Folge: Während die Dioxin-Aufnahme eines sich durchschni­ttlich ernährende­n Europäers früher um zwei Drittel unter dem (alten) Grenzwert lag, so liegt sie nun um ein Mehrfaches darüber. Die EFSA spricht davon, dass diese Überschrei­tungen „gesundheit­lich bedenklich“seien.

Aber was ist die Konsequenz daraus? Da Dioxine in der Umwelt allgegenwä­rtig sind, können wir nichts dagegen unternehme­n – außer warten, dass die Substanzen langsam abgebaut werden. Es sollte uns aber eine Lehre sein: Am Ende trifft jede Umweltvers­chmutzung auch uns Menschen. Der Autor leitete das Forschungs­ressort der „Presse“und ist Chefredakt­eur des „Universum Magazins“.

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