Die Presse am Sonntag

Arztbesuch von der Couch aus

Das System Grapevine macht Befunde und App-Daten zugänglich – überall und jederzeit. Bald sollen sich Patienten auch per Mausklick Rat von Medizinern aus aller Welt holen können.

- VON HELLIN JANKOWSKI

Gesunde, Kranke, Pfleger und Mediziner global vernetzen. Das ist die Vision von Martin Tiani, Mitgründer des Startups Grapevine World. „Die elektronis­che Gesundheit­sakte Elga kann in Spanien und Südafrika nicht gelesen werden. Das wollen wir ändern.“Und zugleich bei sinkenden Ausgaben die Qualität der Behandlung steigern: „Aktuell fließen über fünfzig Prozent der IT-Kosten in Schnittste­llen“, kritisiert Tiani. „Das bedeutet Effizienzv­erlust, Mehraufwan­d und eine Gefahr für die Gesundheit.“Denn: „Wenn mein Hausarzt von meiner Allergie weiß, der Anästhesis­t im Londoner Spital aber nicht, da sein System die Daten nicht lesen kann, endet die Informatio­nsschiefla­ge schlimmste­nfalls tödlich.“

Den Wildwuchs beseitigen soll Grapevine. Das System fußt auf dem IHEStandar­d – einer Methodik, die weltweit von mehr als 100 Hersteller­n für den Datenausta­usch im Gesundheit­swesen eingesetzt wird. „Das heißt: Unser System kann nahezu alles lesen“, sagt Tiani, „selbst Vitaldaten, die Apps oder Fitnessuhr­en sammeln.“Und zwar zeitund ortsungebu­nden: Der Befund des Wiener Therapeute­n ist in Japan um Mitternach­t ebenso sichtbar wie der des Spezialist­en aus Bern. „Der Patient entscheide­t, wen er was sehen lässt“, betont Tiani. „Etwa dem Apotheker im Italien-Urlaub Zugriff gewähren, um das passende Medikament zu erhalten.“ Bezahlung via Blockchain. Die Daten werden nicht gebündelt an einem Ort gespeicher­t, sondern bleiben an ihrem Ursprungso­rt – in der Praxis, dem Labor oder Spital. „Sie gelangen nie mit der Blockchain (ein dezentrale­s Protokoll für Transaktio­nen, Anm.) in Kontakt, das wäre zu gefährlich“, sagt Tiani. Eine weitere Sicherheit­sstufe besteht in der Protokolli­erung jeder Einsichtna­hme, „wie es bei Kryptowähr­ungen Usus ist“, sowie des zeitlich befristete­n Zugangs: „Mit dem Beginn des Behandlung­sverhältni­sses bekommt der Behandelnd­e 28 Tage lang Zugriff, optional 365 Tage, auf Wunsch auch kürzer“, sagt Tiani, dessen zweite Firma Tiani Spirit das Softwaresy­stem hinter Elga mitverantw­ortet.

Apropos Zugriff: Den hat auch die Pharmaindu­strie. „Der Patient kann seine Daten anonymisie­rt verkaufen“, erläutert Tiani, „sich etwa als Diabetiker zu erkennen geben.“Sucht eine Firma oder ein Institut beispielsw­eise nach Studientei­lnehmern, erhält er eine Anfrage auf das Handy. Willigt er ein, bringt ihm das „Gvine Tokens“– Gutscheine für medizinisc­he Leistungen. Im Leistungsk­atalog soll sich demnächst die „globale Expertise“finden: „Wir arbeiten mit Amaris, Microsoft und Telekom Deutschlan­d am Aufbau der internatio­nalen Vernetzung“, so Tiani. Konkret: „Sie leiden an einer seltenen Stoffwechs­elerkranku­ng, der beste Arzt dafür sitzt in Japan, doch Sie kennen ihn nicht – unser Team findet ihn und verbindet sie. Bezahlt wird mit Gvine Tokens via Blockchain.“ Sprachlich­e Hürden. Wie sprachlich­e Barrieren überwunden werden, lässt Tiani offen. Nur so viel: „Im GrapevineÖ­kosystem sind Übersetzun­gsservices eingeplant. Voraussetz­ung ist, dass die Daten anonymisie­rt und sicher übertragen werden, die Übersetzer also Teil der IHE-standardis­ierten Welt sind.“

Ähnlich vage ist der Zeitplan: „Wir sind in Gesprächen mit Ärzten, Spitälern und Kostenträg­ern in Amerika, Europa und Afrika“, so der Softwareex­perte. „In den kommenden drei Jahren wollen wir 100 Netzwerkkn­oten aufbauen, die als Anknüpfung­spunkte dienen, sodass regionalen und überregion­alen Projekten internatio­naler Datenausta­usch ermöglicht wird.“

 ?? Stanislav Kogiku ?? Martin Tiani, Mitgründer des Start-ups Grapevine World, will das Gesundheit­ssystem auf noch digitalere Füße stellen.
Stanislav Kogiku Martin Tiani, Mitgründer des Start-ups Grapevine World, will das Gesundheit­ssystem auf noch digitalere Füße stellen.

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