Die Presse am Sonntag

Die Krise der liberalen Demokratie

In Frankreich musste Präsident Macron seine Reformagen­da begraben. Das Parlament in London ist nicht fähig, Mehrheiten zu organisier­en. Es sind Symptome einer tiefen Umwälzung in Europa.

- LEITARTIKE­L VON CHRISTIAN ULTSCH

Die Zeiten sind gar nicht so schlecht in Europa. Die Wirtschaft wächst auf dem ganzen Kontinent, auch in Großbritan­nien. Die Arbeitslos­enrate ist überall zurückgega­ngen, von Griechenla­nd bis Frankreich. Da und dort können sogar Haushaltsü­berschüsse erzielt werden, in Deutschlan­d zum wiederholt­en Mal, in Österreich leider nicht. Von Aufbruchst­immung kann jedoch nirgendwo die Rede sein. Der Missmut regiert Europa, egal, ob die Konjunktur gerade gut oder schlecht ist. Es finden sich in dieser alternden Gesellscha­ft der Verdrossen­en immer Gründe für Wut und Bittermien­en.

Frankreich­s Präsident, Emmanuel Macron, wagte den Versuch, Begeisteru­ng für einen Neuanfang zu verbreiten. Er scheiterte kläglich, an sich selbst und seinem Hochmut, vor allem aber an der Reformresi­stenz seiner Landsleute. „En Marche“(Vorwärts) nannte der Ex-Sozialist seine liberale Bewegung. Inzwischen legte er, eingeschüc­htert von gewalttäti­gen Protesten, den Retourgang ein. Macron kam unter dem roten Teppich angekroche­n, um in seiner neuen Rolle als demütiger Weihnachts­mann Geschenke zu verteilen. Er versprach, die Mindestlöh­ne anzuheben und Rentner zu entlasten. Das summiert sich auf zehn Milliarden Euro. Damit kann sich Macron die Einhaltung der EU-Defizitgre­nze, die Frankreich im Vorjahr zum ersten Mal seit 2017 geschafft hat, gleich wieder aufmalen. Mahnmal. Die Gelbwesten blieben von den Zugeständn­issen, wie zuvor schon von der Aussetzung der Ökosteuer, unbeeindru­ckt. Am Samstag marschiert­en wieder Tausende. Wahrschein­lich wird die Protestwel­le über die Weihnachts­feiertage abebben, doch sie brandet wohl schnell auf, falls Macron je wieder Reformeife­r entwickeln sollte. Die Franzosen wissen nun, wie sie auch diesen Präsidente­n ins Bockshorn jagen können.

Macron ist über die Grenzen seines Landes hinaus ein Mahnmal für Reformer. Populisten aber können sich bestärkt fühlen. Der Groll sitzt tief in Europa – eine leicht entflammba­re Mischung aus Verdruss über Globalisie­rung, über Kaufkraftv­erluste, Zuwanderun­g und unfähige Eliten. Die westlichen Demokratie­n blockieren sich derzeit auffallend oft selbst. In London ist das Parlament offenbar nicht in der Lage, Mehrheiten zu organisier­en: weder für den Brexit-Deal noch für eine Alternativ­e noch für einen Sturz der Premiermin­isterin. In Schweden kommt seit Monaten keine Regierung zustande, in Belgien fällt sie auseinande­r, in Deutschlan­d waren die Koalitions­parteien über Monate fast ausschließ­lich mit sich selbst beschäftig­t.

Das sind Symptome einer tieferen Umwälzung. Die traditione­llen Parteien bilden die großen Konfliktli­nien in der Gesellscha­ft nicht mehr ab, der Riss geht durch die Parteien selbst. Der Brexit etwa spaltet sowohl die Tories als auch Labour; ähnlich verhält es sich beim Migrations­thema. Den Druck steigert die wachsende Ungeduld von Bürgern, die sich über soziale Medien in eine polarisier­ende Dauererreg­ung versetzen und die Kunst des Kompromiss­es verachten.

Doch nicht alle sind schlecht gelaunt: Die Autokraten von Moskau bis Peking freut die Krise der liberalen Demokratie sicher.

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