Das uneinige Königreich
Die Debatte über den EU-Austritt hält Großbritannien einen Spiegel vors Gesicht. Während die alte politische Ordnung zerfällt, sucht die Gesellschaft eine Neuausrichtung.
Die „Times“drückte es am Samstag so aus: „The Deal Is Dead.“Trotz aller Bemühungen von Premierministerin Theresa May nach dem jüngsten EU-Gipfel tapfer von der „Möglichkeit weiterer Zusagen“zu sprechen, erwartet in London niemand mehr, dass die Vereinbarung im Unterhaus durchgebracht werden kann. May will dennoch nicht aufgeben. Wie Winston Churchill sagte: „Wenn du durch die Hölle gehst, marschiere weiter.“
Immer ungewisser wird, wohin diese Reise führt. Der Brexit hält Großbritannien einen gigantischen Spiegel vors Gesicht. Mehr noch, der geplante Austritt zeigt Probleme auf, für die man keine Lösungen hat. Die Politik ist an einem Punkt der völligen Selbstlähmung angelangt. Nicht nur gibt es für den vorliegenden Deal mit der EU keine Mehrheit. Es gibt auch keine mehrheitsfähige Alternative.
Einer der Gründe ist eine völlige Entkoppelung zwischen Politik und Volk. Wie eine Untersuchung des Politikprofessors John Curtice zeigt, identifizieren sich 73 Prozent der Briten mit ihrer Position für oder gegen den EUAustritt, während sich nur 37 Prozent mit einer Partei verbunden fühlen. Nicht staatsmännisch. Zugleich halten die beiden dominierenden Gruppen – die regierenden Konservativen und die oppositionelle Labour Party – mehr als 82 Prozent der Sitze im Unterhaus. Die Trennung in der Brexit-Frage zieht sich wie ein Spaltpilz durch die Parteien, und deshalb sind sie auch nicht in der Lage, eine mehrheitsfähige Lösung auf den Tisch zu legen. In demselben Dilemma steckt die Opposition genauso wie die Regierung. Die Labour-Führung unter Jeremy Corbyn hat offensichtlich beschlossen, die Sisyphusarbeit an May abzutreten und hofft dann, die Früchte zu ernten. Man mag das pragmatisch nennen. Staatsmännisch ist es nicht.
Dahinter steht das verzweifelte Bestreben, die Brexit-Wähler unter der Labour-Anhängerschaft bei der Stange zu halten. Die meisten sehen sich als Verlierer des wirtschaftlichen Wandels und des gesellschaftlichen Umbruchs. Hier hat das Sparprogramm der konservativ-liberalen Regierung nach 2010 die tiefsten Schneisen geschlagen: Der Sozialhaushalt wurde in den letzten acht Jahren um 39 Milliarden Pfund gekürzt. Nach Gewerkschaftsangaben haben die britischen Arbeitnehmer seit der Finanzkrise 2008 bis zu ein Drittel ihres Realeinkommens verloren, der höchste Wert aller Industriestaaten.
Dennoch greift Labours aktueller Vulgärmarxismus zu kurz. Sowohl vor dem Referendum 2016 als auch nach Abschluss der EU-Vereinbarung Ende November wurde vor den apokalyptischen wirtschaftlichen Folgen eines negativen Ausgangs gewarnt. Bis zu sechs Prozent BIP-Verlust bei einem Brexit sagte der damalige Schatzkanzler George Osborne im Mai 2016 voraus. Einen Monat später stimmte das Land dennoch für den EU-Austritt. Der Himmel ist seither nicht eingestürzt: Die Wirtschaft wächst. Schwach, aber immerhin. Die Beschäftigungsrate liegt mit 75,6 Prozent auf Rekordhöhe.
Das Brexit-Lager sieht sich dadurch in seinen Träumen bestätigt, dass ein „von den Fesseln der EU befreites Großbritannien“auf den Weltmärkten triumphieren werde. Nichts spricht dafür. In Wahrheit ist das Land immer noch Mitglied in der EU, und der Kursverlust des Pfund seit 2016 war ein massives Förderungsprogramm für die Exportwirtschaft.
Das Kernproblem liegt tiefer. Die neue Trennlinie ist nicht ökonomisch, sondern kulturell: Sie verläuft zwischen jenen, die sich in einer globalisierten, offenen, gemischten, liberalen Gesellschaft zurechtfinden und jenen, die sie ablehnen. Der Klassenkampf wurde abgelöst durch den Rassenkampf. Zuwanderung war ein entscheidender Faktor in dem Brexit-Votum, aber Gebiete mit dem höchsten Ausländeranteil stimmten überwiegend für den Verbleib. Es ging nicht um die absolute Zahl, sondern um Integration, Konzentration und Qualifikation. Im Gegensatz zu ihrem urban-liberalen Vorgänger David Cameron hat die konservativere May das viel besser verstanden: Sie spricht unablässig von einem „Großbritannien, das für alle da ist“.
Das aber gibt es nicht (mehr). Auch die Landesteile stehen sich immer unversöhnlicher gegenüber. Die nordirischen Hardliner treiben die Londoner Regierung vor sich her. Und das größte Ziel der schottischen Führung ist es, das Land aus dem gemeinsamen Staat herauszuführen. Vereinigt ist das Königreich nur mehr in Uneinigkeit.