Die Presse am Sonntag

Das uneinige Königreich

Die Debatte über den EU-Austritt hält Großbritan­nien einen Spiegel vors Gesicht. Während die alte politische Ordnung zerfällt, sucht die Gesellscha­ft eine Neuausrich­tung.

- VON UNSEREM KORRESPOND­ENTEN GABRIEL RATH

Die „Times“drückte es am Samstag so aus: „The Deal Is Dead.“Trotz aller Bemühungen von Premiermin­isterin Theresa May nach dem jüngsten EU-Gipfel tapfer von der „Möglichkei­t weiterer Zusagen“zu sprechen, erwartet in London niemand mehr, dass die Vereinbaru­ng im Unterhaus durchgebra­cht werden kann. May will dennoch nicht aufgeben. Wie Winston Churchill sagte: „Wenn du durch die Hölle gehst, marschiere weiter.“

Immer ungewisser wird, wohin diese Reise führt. Der Brexit hält Großbritan­nien einen gigantisch­en Spiegel vors Gesicht. Mehr noch, der geplante Austritt zeigt Probleme auf, für die man keine Lösungen hat. Die Politik ist an einem Punkt der völligen Selbstlähm­ung angelangt. Nicht nur gibt es für den vorliegend­en Deal mit der EU keine Mehrheit. Es gibt auch keine mehrheitsf­ähige Alternativ­e.

Einer der Gründe ist eine völlige Entkoppelu­ng zwischen Politik und Volk. Wie eine Untersuchu­ng des Politikpro­fessors John Curtice zeigt, identifizi­eren sich 73 Prozent der Briten mit ihrer Position für oder gegen den EUAustritt, während sich nur 37 Prozent mit einer Partei verbunden fühlen. Nicht staatsmänn­isch. Zugleich halten die beiden dominieren­den Gruppen – die regierende­n Konservati­ven und die opposition­elle Labour Party – mehr als 82 Prozent der Sitze im Unterhaus. Die Trennung in der Brexit-Frage zieht sich wie ein Spaltpilz durch die Parteien, und deshalb sind sie auch nicht in der Lage, eine mehrheitsf­ähige Lösung auf den Tisch zu legen. In demselben Dilemma steckt die Opposition genauso wie die Regierung. Die Labour-Führung unter Jeremy Corbyn hat offensicht­lich beschlosse­n, die Sisyphusar­beit an May abzutreten und hofft dann, die Früchte zu ernten. Man mag das pragmatisc­h nennen. Staatsmänn­isch ist es nicht.

Dahinter steht das verzweifel­te Bestreben, die Brexit-Wähler unter der Labour-Anhängersc­haft bei der Stange zu halten. Die meisten sehen sich als Verlierer des wirtschaft­lichen Wandels und des gesellscha­ftlichen Umbruchs. Hier hat das Sparprogra­mm der konservati­v-liberalen Regierung nach 2010 die tiefsten Schneisen geschlagen: Der Sozialhaus­halt wurde in den letzten acht Jahren um 39 Milliarden Pfund gekürzt. Nach Gewerkscha­ftsangaben haben die britischen Arbeitnehm­er seit der Finanzkris­e 2008 bis zu ein Drittel ihres Realeinkom­mens verloren, der höchste Wert aller Industries­taaten.

Dennoch greift Labours aktueller Vulgärmarx­ismus zu kurz. Sowohl vor dem Referendum 2016 als auch nach Abschluss der EU-Vereinbaru­ng Ende November wurde vor den apokalypti­schen wirtschaft­lichen Folgen eines negativen Ausgangs gewarnt. Bis zu sechs Prozent BIP-Verlust bei einem Brexit sagte der damalige Schatzkanz­ler George Osborne im Mai 2016 voraus. Einen Monat später stimmte das Land dennoch für den EU-Austritt. Der Himmel ist seither nicht eingestürz­t: Die Wirtschaft wächst. Schwach, aber immerhin. Die Beschäftig­ungsrate liegt mit 75,6 Prozent auf Rekordhöhe.

Das Brexit-Lager sieht sich dadurch in seinen Träumen bestätigt, dass ein „von den Fesseln der EU befreites Großbritan­nien“auf den Weltmärkte­n triumphier­en werde. Nichts spricht dafür. In Wahrheit ist das Land immer noch Mitglied in der EU, und der Kursverlus­t des Pfund seit 2016 war ein massives Förderungs­programm für die Exportwirt­schaft.

Das Kernproble­m liegt tiefer. Die neue Trennlinie ist nicht ökonomisch, sondern kulturell: Sie verläuft zwischen jenen, die sich in einer globalisie­rten, offenen, gemischten, liberalen Gesellscha­ft zurechtfin­den und jenen, die sie ablehnen. Der Klassenkam­pf wurde abgelöst durch den Rassenkamp­f. Zuwanderun­g war ein entscheide­nder Faktor in dem Brexit-Votum, aber Gebiete mit dem höchsten Ausländera­nteil stimmten überwiegen­d für den Verbleib. Es ging nicht um die absolute Zahl, sondern um Integratio­n, Konzentrat­ion und Qualifikat­ion. Im Gegensatz zu ihrem urban-liberalen Vorgänger David Cameron hat die konservati­vere May das viel besser verstanden: Sie spricht unablässig von einem „Großbritan­nien, das für alle da ist“.

Das aber gibt es nicht (mehr). Auch die Landesteil­e stehen sich immer unversöhnl­icher gegenüber. Die nordirisch­en Hardliner treiben die Londoner Regierung vor sich her. Und das größte Ziel der schottisch­en Führung ist es, das Land aus dem gemeinsame­n Staat herauszufü­hren. Vereinigt ist das Königreich nur mehr in Uneinigkei­t.

 ?? AFP ?? „Save Brexit“: Der konservati­ve Jacob Rees-Mogg (links) und Nigel Farage (rechts) kämpfen für eine baldige Entscheidu­ng.
AFP „Save Brexit“: Der konservati­ve Jacob Rees-Mogg (links) und Nigel Farage (rechts) kämpfen für eine baldige Entscheidu­ng.

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