Die Presse am Sonntag

Das unbeachtet­e Wunderland

Abseits der globalen Aufmerksam­keit vollzieht das einstige Hungerland Äthiopien seit einigen Jahren einen rasanten wirtschaft­lichen Aufschwung. Seit heuer gibt es auch politisch Hoffnung.

- VON JAKOB ZIRM

Ein dürres Kind mit leeren Augen, die in die Kamera starren. Es ist dieses Bild, das den meisten Österreich­ern in den Sinn kommen dürfte, wenn sie Äthiopien hören. Kein Wunder, schließlic­h war es die große Hungersnot Äthiopiens in den Jahren 1984 und 1985, die über lange Jahre hindurch prägend für das Image des Landes – und mitunter ganz Subsahara-Afrikas – im Westen war. Sie war es auch, die 1985 den Anlass für das berühmte Live-Aid-Konzert zeitgleich in London und Philadelph­ia gab.

Doch seither sind mehr als 30 Jahre vergangen. Und weitgehend unbemerkt hat sich Äthiopien vom „Hungerland zum Hoffnungst­räger“entwickelt, wie eine Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerun­g und Entwicklun­g jüngst treffend titelte. So betrug das Wirtschaft­swachstum des Landes beinahe jedes Jahr in der vergangene­n Dekade zehn Prozent oder leicht darüber.

Auch wenn diese Zuwächse von einem sehr niedrigen Niveau ausgehen, ist Äthiopiens 62-Milliarden-DollarVolk­swirtschaf­t (Österreich: 417 Milliarden Dollar) damit schneller gewachsen als jede andere in Afrika südlich der Sahara. In der Periode bis zum Sommer 2019 soll es laut Internatio­nalem Währungsfo­nds erneut ein Plus von 8,5 Prozent geben. Weniger Armut. Dieses Wachstum verbessert­e die wirtschaft­liche Situation der Einwohner deutlich. Mussten 1995 noch beinahe 70 Prozent der Äthiopier von weniger als zwei Dollar am Tag leben, ist dieser Wert inzwischen auf etwa ein Viertel gefallen. Damit ging auch eine starke Reduktion der Kinderzahl pro Frau einher. Sie sank seit den 1990er-Jahren von 7,1 auf 4,6. Das war der stärkste Rückgang unter allen Ländern im Afrika südlich der Sahara.

Laut den Studienaut­oren des BerlinInst­ituts findet sich darin auch der Schlüssel zur aktuellen Wachstumss­tory Äthiopiens. Denn derzeit gibt es wenig Alte und weniger Kinder, die versorgt werden müssen. Dadurch wächst die arbeitsfäh­ige Bevölkerun­g des mit 105 Millionen Menschen nach Nigeria einwohnerr­eichsten Landes Afrikas stetig an. 70 Prozent der Äthiopier sind jünger als 30 Jahre, das Medianalte­r liegt bei 18.

In Kombinatio­n mit mehr Bildung und einer stärkeren Beteiligun­g der Frauen am Erwerbsleb­en erhöht sich so die Produktivi­tät der Gesellscha­ft. Äthiopien lukriere derzeit eine „demografis­che Dividende“, so die Ökonomen. Die Politik stellte hierbei auch die richtigen Weichen. So wurde die Zahl der Schulen seit Anfang der 1990er-Jahre um das 25-Fache gesteigert. Äthio- pien gibt 30 Prozent des Budgets für Bildung aus.

Die Entwicklun­g erinnert in vielerlei Hinsicht an die asiatische­n Tigerstaat­en in ihren Anfängen während der 1960er-Jahre. Und auch in anderen Bereichen eifert Äthiopien den asiatische­n Vorbildern nach. So versucht der eher rohstoffar­me Staat zuletzt, Industrie anzusiedel­n. Vor allem Textilunte­rnehmen stehen dabei im Fokus. Erste Erfolge lassen sich dabei bereits vermelden. So lässt etwa die schwedisch­e Handelsket­te H&M Hosen in dem afrikanisc­hen Land nähen. Die Auftragsfe­rtiger sind dabei meist Unternehme­n, die ihren Stammsitz eigentlich in Asien haben. Doch aufgrund der dort gestiegene­n Löhne errichten sie nun auch neue Werke in Äthiopien. Das Gehalt der Menschen dort befindet sich nämlich noch auf dem Niveau Chinas in den 1980er-Jahren.

China ist mit einem Anteil am Handelsvol­umen von 28 Prozent inzwischen auch der wichtigste Partner Äthiopiens – noch vor Europa und den USA. In den vergangene­n fünf Jahren vergab Peking Kredite in Höhe von mehr als zehn Milliarden Dollar. Lange erinnerte auch die politische Situation sehr stark an China. So führt die seit 1991 regierende Partei EPRDF das Land mit fester Hand. Die Wirtschaft ist weitgehend staatlich kontrollie­rt, die Meinungsfr­eiheit eingeschrä­nkt.

Das könnte sich nun aber ändern. Seit April ist der 42-jährige Abiy Ahmed Premiermin­ister. Der Armeeoffiz­ier hat seine Karriere zwar ebenfalls innerhalb der EPRDF gemacht. Er verspricht nun aber Wandel. So lockerte er nicht nur bei Menschenre­chtsfragen die Zügel, auch in wirtschaft­lichen Belangen weht ein neuer Wind. So sollen Schlüssels­ektoren wie Telekom, Energie oder Logistik für private Anbieter und Investoren geöffnet werden. Darunter fällt auch die profitable nationale Fluglinie Ethiopian Airlines. Gleichzeit­ig soll die Versöhnung mit der ehemaligen Provinz Eritrea dem Land wieder den Zugang zu wichtigen Häfen schaffen. Hohe Schulden. Die Reformen sind auch notwendig. Denn es gibt auch Schatten beim äthiopisch­en Wunder. So liegt die Verschuldu­ng mit 60 Prozent des BIP für ein Entwicklun­gsland sehr hoch. Der IWF hat das Risiko für Zahlungsau­sfälle zuletzt daher auf „hoch“angehoben. Vor allem an Devisen herrscht latenter Mangel. Um dies zu beheben müsste die Industrial­isierung wesentlich stärker forciert werden, so die Ökonomen. Doch auch aus anderer Richtung gibt es eine Bedrohung. Denn Abiy macht sich mit seinem Reformkurs nicht nur Freunde. Bereits im Juni gab es bei einer Rede von ihm einen Anschlag. Und im Oktober scheiterte ein Komplott hoher Militärs.

 ?? Getty Images ?? Äthiopien (hier eine Szene am Rand eines Marktes der Hauptstadt Addis Abeba), das einzige nie kolonialis­ierte Land Afrikas, erlebt derzeit einen wirtschaft­lichen Boom.
Getty Images Äthiopien (hier eine Szene am Rand eines Marktes der Hauptstadt Addis Abeba), das einzige nie kolonialis­ierte Land Afrikas, erlebt derzeit einen wirtschaft­lichen Boom.

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