Die Presse am Sonntag

Als Amerika noch von der Zukunft träumte

In den 1950ern bis in die Sixties war die US-amerikanis­che Autoindust­rie von Visionen und Utopien beseelt. Der Drang zu Aufbruch und Fortschrit­t ist längst einem Rückzug auf die einträglic­he Produktion von rustikalen Pick-ups gewichen.

- VON TIMO VÖLKER

Die Zukunft ist dann doch etwas anders gekommen. Autos mit Düsenantri­eb haben sich nicht durchgeset­zt, obwohl es eine kleine Flotte zur Alltagserp­robung schon auf die Straße geschafft hat. Auch Autos mit Nuklearant­rieb blieben der Menschheit – bislang – erspart, Ford hatte es sicherheit­shalber bei einem Miniaturmo­dell belassen. Die Reaktortec­hnologie der Sechzigerj­ahre war noch nicht so weit für den mobilen Einsatz im flotten Zweitürer.

Aber vielleicht sind wir insgesamt noch gar nicht so weit, um in der Schatzkamm­er der US-Autoindust­rie in ihren besten Jahren zwischen kühner Vision und purer Utopie unterschei­den zu können. Der Unterschie­d ist zuweilen rein graduell. Die Lüfte erobert. Den Turbinenan­trieb etwa verfolgten die Vorausentw­ickler bei General Motors über viele Jahre lang fast obsessiv – und lagen damit grundsätzl­ich goldrichti­g. Ihm gehörte tatsächlic­h die Zukunft, man bewegte sich bloß in der falschen Dimension. Auf der Straße taugen Düsen wenig, doch die Lüfte haben sie im Handstreic­h erobert. Das lag zu Beginn der 1950er, als GM das erste Turbinenau­to vorstellte, noch im Bereich der Vision. Dies war das Jahrzehnt der Lockheed Super Constellat­ion, des ersten bedeutende­n Verkehrsfl­ugzeugs – ausgestatt­et mit vier Hubkolbenm­otoren.

Das Jet-Zeitalter war eben noch ein paar Ecken entfernt, doch Leute wie GM-Legende Harvey Earl sehnten es als Inbegriff von Aufbruch und Fortschrit­t so ungeduldig herbei, dass sie es mit den Mitteln einer Autoentwic­klungsabte­ilung kurzerhand auf die Straße brachten. Flugunfähi­ge Vögel wie der GM Firebird von 1953: Ein einsitzige­s Flugzeug auf Rädern, in dem es zu einem Abheben höchstens unfreiwill­ig und mit fatalen Konsequenz­en kommen würde. Angetriebe­n wurde nicht per Rückstoß, die Gasturbine trieb die Hinterräde­r an. Und das so fulminant, dass zunächst nur der furchtlose Projektlei­ter ans Steuer gelassen wurde. Während man auf Shows von 200 Meilen pro Stunde (320 km/h) fantasiert­e, wurde ihm bei 100 Meilen so mulmig, dass er es sein ließ.

Um Geschwindi­gkeitsreko­rde ging es GM aber gar nicht. Der Nachfolger Firebird II zeigte 1956, wohin es wirklich gehen sollte: Der fast sechs Meter lange Prototyp war als Familienau­to ausgelegt. Das Auto war einerseits komplett futuristis­ch, stellte anderersei­ts soliden, hochmodern­en Fahrzeugba­u mit Einzelrada­ufhängung und Scheibenbr­emsen an allen Rädern zur Schau. Auch einige Unzulängli­chkeiten der Gasturbine hatte man in den Griff bekommen, etwa die hohen Austrittst­emperature­n, wie sie Passanten beim knappen Vorbeigehe­n ein schönes Andenken in die Unterschen­kel löten würden. Highway der Zukunft. Natürlich glich auch Bluebird II einem Flugzeug. GMTechnik- und Designchef Harvey Earl war Aviatik-Fan und ahnte früh die Bedeutung des Windkanals für die Formgebung von Autos. Einstweile­n zweigte er aus seiner Bewunderun­g für die GM-Legende und Aviatik-Fan Harvey Earl, Vater des Firebird-Projekts, ebenso Erfinder der Heckflosse. Flugzeugte­chnik den Designknif­f der Heckflosse ab – das ikonenhaft­e Element der US-Straßenkre­uzer, von der Höhenfloss­e an Flugzeugen abgeleitet, gilt als seine Erfindung.

Mit seinem frischen Wurf verfolgte er allerdings eine bodennahe Vision, die heute, sechs Jahrzehnte später, eine nachhaltig­e Renaissanc­e erlebt: das automatisi­erte Autofahren. Auf dem „Highway der Zukunft“, ausgestatt­et mit im Boden versenkten Kontakten, sollten Autos wie Firebird II ohne Zutun eines Fahrers verkehren können – sicher vor Unfällen und höchst komfortabe­l. Das Auto war eine der Hauptattra­ktionen des GM-Wanderzirk­us „Motorama“, der jährlich in mehreren Bundeshaup­tstädten gastierte und ein Millionenp­ublikum für die Zukunftsid­een des über Jahrzehnte größten Autoherste­llers des Welt begeistert­e.

Die Heckflosse – ein Ausdruck der großen Begeisteru­ng für Flugzeugte­chnik.

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