Eine alte russische Seele
Ihre Mischung aus Humor und Wehmütigkeit erinnert an ihren Landsmann Leonard Cohen: Die kanadische Sängerin Michelle Gurevich hat russische Wurzeln. Und das spürt man.
Über ihr Alter spricht sie nicht. Lieber hat sie es, wenn sie älter geschätzt wird, als sie ist. Schon bei der ersten Begegnung mit ihrer sonoren Singstimme ist klar: Im jungen Leib von Michelle Gurevich haust eine alte Seele. Eine russische noch dazu. Im kanadischen Toronto als Tochter russischer Auswanderer geboren, besticht die Ästhetik ihrer bislang fünf Alben mit einer unwiderstehlichen Mischung aus Mollverliebtheit und sarkastischem Humor.
„Ein russischer Freund nannte mich einmal eine Fake-Russin“sagt Gurevich im Gespräch mit der „Presse“. „Andererseits meinte ein wichtiger russischer Journalist, dass meine Musik russischer sei als alles, was es aktuell in Russland gibt. Für die Kanadier bin ich zu russisch, für die Russen zu kanadisch.“2010 zog sie für einige Jahre nach Berlin. Jetzt lebt sie wieder in Toronto. „Meine Kultur ist ganz spezifisch jene der russischen Community, die in den Siebzigerjahren nach Kanada kam. Aber die ist im Schwinden, sind doch seither weitere Wellen der Emigration angebrandet.“Mögen nun Iraner und Koreaner das Stadtbild Torontos markanter prägen, das genuin Russische wanderte in Gurevichs Musik. Intelligenz! Auch ihr fünftes Album „Exciting Times“charmiert mit einer von heiteren Rhythmen camouflierten slawischen Schwere, die an Dostojewskis Satz erinnert: „Das russische Volk findet in seinem Leiden gleichsam Genuss.“In ihrer Kunst findet Gurevich nicht nur Trost in allerlei Trostlosigkeiten, sondern auch Platz für wunderbaren Humor, der sich schon in Songtiteln wie „I Kiss The Hand Of My Destroyer“und „Drugs Saved My Life“manifestiert. Wichtig ist ihr auch Intelligenz. „Good looks never hurt no one, yet they fail to turn me on“, erklärt sie in „Way You Write“, dem Opener des neuen Albums: Wer an ihr interessiert ist, möge sich gefälligst in verbalem Ausdruck üben. „What a brilliant line, can we spend the night?“, ächzt sie im Refrain. „Die Idee dafür hatte ich, als ich mich spaßeshalber auf dem Datingportal Tinder umsah“, sagt sie: „Ich tat mir schwer, Gesichter zu beurteilen, wenn nichts dabei stand. Mich zieht Geschriebenes an. Ich bin ein Fan von Bukowski, der ist zwar grob, kann aber überraschend zärtlich sein. Leonard Cohens Liedtexte mag ich auch sehr.“
Dabei hörte Gurevich in ihrer Jugend eher die Lieder der sowjetischen Popkönigin Alla Pugacheva und Sänger wie Aleksander Rosenbaum und Aleksander Serov, die in den russischen Restaurants von Toronto auftraten. Cohens Kunst lernte sie erst kennen, als Hörer sie auf die Ähnlichkeit zu ihren Liedern aufmerksam machten. „Darauf hab ich ihn mir angehört. Jetzt bin ich Fan. Für mich fühlt ist es, als ob er in seiner stillen buddhistischen Weise immer noch leben würde. Die uns beiden eigene Mischung aus Melancholie und Humor kommt aus Osteuropa. Auch ich war starken aschkenasischen Einflüssen ausgesetzt. Meine Mutter und Großmutter stammen aus Odessa, wo der schwarze Humor zu Hause ist.“
Apropos zu Hause: Ihre Lieder nimmt Gurevich daheim in ihrer Wohnung auf. „Meine Karriere ist zweifellos ein Produkt des digitalen Zeitalters“, sagt sie: „Die neuen Techniken verbinden mein Schlafzimmer mit anderen Schlafzimmern überall auf der Welt. Ich speise meine uralten Storys in die elektronischen Kanäle ein.“Teil der Musikindustrie wollte und will sie nicht werden. Auch wenn sich Manager und Labels für sie interessierten, sie wollte unabhängig bleiben: „Meine kleine Bäckerei hätte sonst ihren Charme verloren.“So vertreibt sie ihre Musik über ihre Homepage.
Mit dem versonnenen Song „Memories Of Three“klingt das neue Album aus. Er handelt über eine Leidenschaft, die den Sommer nicht überleben sollte – und reflektiert die Vergänglichkeit: „These things can’t last, but they make a beautiful season.“Was wäre für sie ein bleibendes, ein perfektes Lied? „Wenn ich eines auswählen soll, dann ,Avec Le Temps‘ von Leo´ Ferre.´ Sonst das Lied, das ich noch nicht geschrieben habe, aber stets zu schreiben versuche.“