»Marx ist mir zu wenig leistungsfreundlich«
SPÖ-Vorsitzende Pamela Rendi-Wagner über ihr wirtschaftspolitisches Verständnis, die – selbst erlebten – Grenzen der Aufnahmebereitschaft bei Flüchtlingen und ihr Verhältnis zu Religion und Homöopathie.
Sie sind nun seit knapp seit zwei Jahren in der Politik. In manchen Bereichen, etwa in der Wirtschaftspolitik, weiß man allerdings nicht genau, was Sie denken. Einer Ihrer Vorgänger, Alfred Gusenbauer, hat die „solidarische Hochleistungsgesellschaft“propagiert, ein anderer, Christian Kern, hat bei jeder sich bietenden Gelegenheit die Ökonomin Mariana Mazzucato zitiert, deren zentrale These ist, dass zuerst einmal der Staat die Innovation antreiben soll, die Privaten könnten dann übernehmen. Wie sehen Sie das? Pamela Rendi-Wagner: Christian Kern kam aus der Wirtschaft, war Manager. Ich komme aus einem ganz anderen Bereich. Wirtschaftspolitik soll auf der einen Seite leistungsfreundlich sein und auf der anderen zu mehr Gerechtigkeit beitragen. Es ist möglich, diese beiden Dinge zusammenzuführen. Ich bin da auch ganz stark bei den KMU, den Klein- und Mittelunternehmen, die wir mit den geeigneten Rahmenbedingungen unterstützen und fördern müssen. Schon wenn es um die Unternehmensgründungen geht. Frauenempowerment und der gesunde Arbeitsplatz waren mir schon in meinen bisherigen Funktionen sehr wichtig. Und die größte Herausforderung ist: Wie unterstützen wir von politischer Seite kleine und mittlere Betriebe beim Umstieg ins digitale Zeitalter? Fangen Sie mit Karl Marx noch etwas an? Natürlich. Gemeint war für Ihr politisches Denken und Handeln. Für mein jetziges wirtschaftspolitisches Denken und Handeln kann ich mit Karl Marx wenig anfangen. Die Herausforderungen der Zeit wie die Digitalisierung brauchen moderne Antworten. Und die werde ich jetzt nicht bei Karl Marx finden. Nicht mit althergebrachten Rezepten. Das ist mir zu wenig leistungsfreundlich. Es gab den Versuch von Tony Blair und Gerhard Schröder, einen sogenannten Dritten Weg zu gehen, wirtschaftliche Liberalisierung bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung des Sozialstaats. Kritiker nennen das einen Mit- oder Hauptgrund für die heutige Krise der Sozialdemokratie. Ich denke, dass dieser Weg eindeutig zu wirtschaftsliberal ist und der Aspekt der Gerechtigkeit zu wenig Berücksichtigung fand. Wobei sich seit damals auch vieles an den Rahmenbedingungen geändert hat. Das Gegenmodell wäre das von Jeremy Corbyn. Wie finden Sie ihn? Ich würde Corbyn nicht umlegen auf die hiesigen Verhältnisse. Er ist ein aus meiner Sicht viel zu polarisierender Politiker. Das ist nicht meine Art und nicht mein Stil, Politik zu machen. Ein weiterer Bereich, in dem man nicht genau weiß, wo Sie stehen, ist die Migrationspolitik. Ein anderer Ihrer Vorgänger, Werner Faymann, hatte mit der Debatte um eine Obergrenze für Flüchtlinge zu kämpfen. Wo sind Sie damals gestanden? Ich war dabei! Ich war damals die oberste Gesundheitsexpertin im Ministerium und im Nationalen Krisenstab im Innenministerium hinzugezogen für die Prävention von Gesundheitsgefahren. Und ich habe auch die medizinische Erstuntersuchung für alle Asylwerber mitorganisiert. Wenn man 2015 Revue passieren lässt: Was ich dort erlebt habe, war einerseits die große Hilfsbereitschaft, die die Österreicherinnen und Österreicher den Flüchtlingen entgegengebracht haben. Anderseits habe ich nach einigen Monaten aber auch selbst erlebt, dass wir an unsere Grenzen stoßen. Deswegen ist die Obergrenze eine große Notwendigkeit gewesen, um das ordentliche Funktionieren des Systems aufrechterhalten zu können. Im medizinischen Bereich war es etwa nicht mehr möglich, Rönt-
Pamela RendiWagner
wurde am 7. Mai 1971 in Wien geboren. Sie studierte Medizin. Anschließend studierte sie an der London School of Hygiene and Tropical Medicine. 1998 kehrte sie an die Universität Wien zurück und arbeitete in der Abteilung für Spezifische Prophylaxe und Tropenmedizin. Von 2011 bis 2017 hatte sie die Leitung der Sektion III, Öffentliche Gesundheit und medizinische Angelegenheiten, im Gesundheitsministerium inne. 2017 wurde sie selbst Gesundheitsministerin in der Regierung Kern. Nach dessen Rücktritt als Parteichef wurde sie im Herbst 2018 SPÖ-Vorsitzende. Rendi-Wagner ist mit einem Diplomaten verheiratet und hat zwei Kinder. genuntersuchungen in diesem Ausmaß zu organisieren. Und das lässt sich für jeden Bereich durchdeklinieren. Die Konsequenz, die die Politik aus dem zu ziehen hat, ist: Humanität ja, aber wir müssen dafür Sorge tragen, dass sich so etwas wie 2015 nicht mehr wiederholt. Soll man die NGOs dazu anhalten, die Rettung im Mittelmeer einzustellen? Dass NGOs seitens einiger Regierungsmitglieder kriminalisiert wurden, dagegen werde ich mich immer wehren. Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen vollziehen hier humanitäre Hilfe, und das ist ihre Aufgabe. Das Gegenargument ist: Besteht die Möglichkeit einer Rettung durch europäische Schiffe im Mittelmeer, die einen dann nach Europa bringen, nicht mehr, dann würde sich auch keiner mehr aufmachen. Ich sehe hier ein humanitäres Problem, wenn man Seenotrettung unterbinden würde. Ist die SPÖ heute noch eine Arbeiterpartei? Oder nur noch eine der Mittelschicht? Die SPÖ ist eine Partei der Mitte, die breit aufgestellt ist. Betrachtet man zum Beispiel den Ausbildungsgrad unseres Wähleranteils haben wir beim niedrigen, beim mittleren und beim hohen jeweils ein Drittel. Sie sehen sich als Kind der Ära Kreisky, dessen Bildungspolitik Sie auch Ihren Aufstieg mitzuverdanken haben. Damals gab es Noten in den Volksschulen, Leistungsgruppen in den Hauptschulen. Also all das, was die SPÖ heute schlecht findet. Es ist vierzig Jahre her. Da sehen Sie, dass die Regierung heute einen Rückschritt macht um vierzig Jahre. Die Rahmenbedingungen haben sich geändert, wir müssen die Schüler heute auf die Digitalisierung vorbereiten. Und wir müssen in der Schule auch Integration nachhaltig bewerkstelligen. Haben Sie aus der Debatte um das Buch von Susanne Wiesinger über die Zustände an Wiener Schulen etwas mitgenommen? Ich glaube auch, dass die Herausforderungen hier riesengroß sind. Wir müssen das ernst nehmen und darauf eingehen, dass es Schulen gibt, die einen höheren Bedarf an Personal und Ausstattung haben. Die SPÖ fordert 5000 Lehrer mehr an den Brennpunktschu- len. Und ja, ich will nicht, dass kleine Mädchen Kopftuch tragen, ich bin dagegen. Aber ich sage auch: Das ist keine Integrationsmaßnahme für sich. Sind Sie selbst religiös? So gut wie nicht. Ich bin aus der Kirche 2005 ausgetreten. Warum? Das war schon eine längere Überlegung. Mir hat die Kirche einfach nicht mehr Antworten gegeben auf meine Fragen. Ich war damals schwanger mit meiner ersten Tochter, und da beginnt man vielleicht noch mehr darüber nachzudenken. Auch meine Kinder sind nicht getauft. Ein heikles Thema zwischen Kirche und SPÖ war und ist die Haltung zur Abtreibung. Die deutschen Jusos wollen diese nun grund- sätzlich legalisieren, theoretisch sogar bis zum neunten Monat. Wie sehen Sie das? Ich bin der Meinung, wir haben in Österreich mit der Fristenlösung eine sehr gute Lösung. Daran würde ich keinen Millimeter rütteln. Wiens Patientenanwältin Sigrid Pilz will den Verkauf homöopathischer Produkte in der Apotheke verbieten. Was meinen Sie? Ich bin Schulmedizinerin, evidenzbasiert. Und der wissenschaftliche Wirksamkeitsnachweis fehlt mir im Bereich der Homöopathie. Andererseits muss man zur Kenntnis nehmen, dass wir hier 30 bis 40 Prozent Placeboeffekt erzielen und dass es eine große Gruppe an Menschen gibt, die an die Homöopathie glauben. Und indem ich den Verkauf einfach verschiebe, von der Apotheke in die Drogeriemärkte, ist das Thema ja schon gar nicht gelöst.