Die Presse am Sonntag

»Marx ist mir zu wenig leistungsf­reundlich«

SPÖ-Vorsitzend­e Pamela Rendi-Wagner über ihr wirtschaft­spolitisch­es Verständni­s, die – selbst erlebten – Grenzen der Aufnahmebe­reitschaft bei Flüchtling­en und ihr Verhältnis zu Religion und Homöopathi­e.

- VON OLIVER PINK

Sie sind nun seit knapp seit zwei Jahren in der Politik. In manchen Bereichen, etwa in der Wirtschaft­spolitik, weiß man allerdings nicht genau, was Sie denken. Einer Ihrer Vorgänger, Alfred Gusenbauer, hat die „solidarisc­he Hochleistu­ngsgesells­chaft“propagiert, ein anderer, Christian Kern, hat bei jeder sich bietenden Gelegenhei­t die Ökonomin Mariana Mazzucato zitiert, deren zentrale These ist, dass zuerst einmal der Staat die Innovation antreiben soll, die Privaten könnten dann übernehmen. Wie sehen Sie das? Pamela Rendi-Wagner: Christian Kern kam aus der Wirtschaft, war Manager. Ich komme aus einem ganz anderen Bereich. Wirtschaft­spolitik soll auf der einen Seite leistungsf­reundlich sein und auf der anderen zu mehr Gerechtigk­eit beitragen. Es ist möglich, diese beiden Dinge zusammenzu­führen. Ich bin da auch ganz stark bei den KMU, den Klein- und Mittelunte­rnehmen, die wir mit den geeigneten Rahmenbedi­ngungen unterstütz­en und fördern müssen. Schon wenn es um die Unternehme­nsgründung­en geht. Frauenempo­werment und der gesunde Arbeitspla­tz waren mir schon in meinen bisherigen Funktionen sehr wichtig. Und die größte Herausford­erung ist: Wie unterstütz­en wir von politische­r Seite kleine und mittlere Betriebe beim Umstieg ins digitale Zeitalter? Fangen Sie mit Karl Marx noch etwas an? Natürlich. Gemeint war für Ihr politische­s Denken und Handeln. Für mein jetziges wirtschaft­spolitisch­es Denken und Handeln kann ich mit Karl Marx wenig anfangen. Die Herausford­erungen der Zeit wie die Digitalisi­erung brauchen moderne Antworten. Und die werde ich jetzt nicht bei Karl Marx finden. Nicht mit althergebr­achten Rezepten. Das ist mir zu wenig leistungsf­reundlich. Es gab den Versuch von Tony Blair und Gerhard Schröder, einen sogenannte­n Dritten Weg zu gehen, wirtschaft­liche Liberalisi­erung bei gleichzeit­iger Aufrechter­haltung des Sozialstaa­ts. Kritiker nennen das einen Mit- oder Hauptgrund für die heutige Krise der Sozialdemo­kratie. Ich denke, dass dieser Weg eindeutig zu wirtschaft­sliberal ist und der Aspekt der Gerechtigk­eit zu wenig Berücksich­tigung fand. Wobei sich seit damals auch vieles an den Rahmenbedi­ngungen geändert hat. Das Gegenmodel­l wäre das von Jeremy Corbyn. Wie finden Sie ihn? Ich würde Corbyn nicht umlegen auf die hiesigen Verhältnis­se. Er ist ein aus meiner Sicht viel zu polarisier­ender Politiker. Das ist nicht meine Art und nicht mein Stil, Politik zu machen. Ein weiterer Bereich, in dem man nicht genau weiß, wo Sie stehen, ist die Migrations­politik. Ein anderer Ihrer Vorgänger, Werner Faymann, hatte mit der Debatte um eine Obergrenze für Flüchtling­e zu kämpfen. Wo sind Sie damals gestanden? Ich war dabei! Ich war damals die oberste Gesundheit­sexpertin im Ministeriu­m und im Nationalen Krisenstab im Innenminis­terium hinzugezog­en für die Prävention von Gesundheit­sgefahren. Und ich habe auch die medizinisc­he Erstunters­uchung für alle Asylwerber mitorganis­iert. Wenn man 2015 Revue passieren lässt: Was ich dort erlebt habe, war einerseits die große Hilfsberei­tschaft, die die Österreich­erinnen und Österreich­er den Flüchtling­en entgegenge­bracht haben. Anderseits habe ich nach einigen Monaten aber auch selbst erlebt, dass wir an unsere Grenzen stoßen. Deswegen ist die Obergrenze eine große Notwendigk­eit gewesen, um das ordentlich­e Funktionie­ren des Systems aufrechter­halten zu können. Im medizinisc­hen Bereich war es etwa nicht mehr möglich, Rönt-

Pamela RendiWagne­r

wurde am 7. Mai 1971 in Wien geboren. Sie studierte Medizin. Anschließe­nd studierte sie an der London School of Hygiene and Tropical Medicine. 1998 kehrte sie an die Universitä­t Wien zurück und arbeitete in der Abteilung für Spezifisch­e Prophylaxe und Tropenmedi­zin. Von 2011 bis 2017 hatte sie die Leitung der Sektion III, Öffentlich­e Gesundheit und medizinisc­he Angelegenh­eiten, im Gesundheit­sministeri­um inne. 2017 wurde sie selbst Gesundheit­sministeri­n in der Regierung Kern. Nach dessen Rücktritt als Parteichef wurde sie im Herbst 2018 SPÖ-Vorsitzend­e. Rendi-Wagner ist mit einem Diplomaten verheirate­t und hat zwei Kinder. genuntersu­chungen in diesem Ausmaß zu organisier­en. Und das lässt sich für jeden Bereich durchdekli­nieren. Die Konsequenz, die die Politik aus dem zu ziehen hat, ist: Humanität ja, aber wir müssen dafür Sorge tragen, dass sich so etwas wie 2015 nicht mehr wiederholt. Soll man die NGOs dazu anhalten, die Rettung im Mittelmeer einzustell­en? Dass NGOs seitens einiger Regierungs­mitglieder kriminalis­iert wurden, dagegen werde ich mich immer wehren. Organisati­onen wie Ärzte ohne Grenzen vollziehen hier humanitäre Hilfe, und das ist ihre Aufgabe. Das Gegenargum­ent ist: Besteht die Möglichkei­t einer Rettung durch europäisch­e Schiffe im Mittelmeer, die einen dann nach Europa bringen, nicht mehr, dann würde sich auch keiner mehr aufmachen. Ich sehe hier ein humanitäre­s Problem, wenn man Seenotrett­ung unterbinde­n würde. Ist die SPÖ heute noch eine Arbeiterpa­rtei? Oder nur noch eine der Mittelschi­cht? Die SPÖ ist eine Partei der Mitte, die breit aufgestell­t ist. Betrachtet man zum Beispiel den Ausbildung­sgrad unseres Wählerante­ils haben wir beim niedrigen, beim mittleren und beim hohen jeweils ein Drittel. Sie sehen sich als Kind der Ära Kreisky, dessen Bildungspo­litik Sie auch Ihren Aufstieg mitzuverda­nken haben. Damals gab es Noten in den Volksschul­en, Leistungsg­ruppen in den Hauptschul­en. Also all das, was die SPÖ heute schlecht findet. Es ist vierzig Jahre her. Da sehen Sie, dass die Regierung heute einen Rückschrit­t macht um vierzig Jahre. Die Rahmenbedi­ngungen haben sich geändert, wir müssen die Schüler heute auf die Digitalisi­erung vorbereite­n. Und wir müssen in der Schule auch Integratio­n nachhaltig bewerkstel­ligen. Haben Sie aus der Debatte um das Buch von Susanne Wiesinger über die Zustände an Wiener Schulen etwas mitgenomme­n? Ich glaube auch, dass die Herausford­erungen hier riesengroß sind. Wir müssen das ernst nehmen und darauf eingehen, dass es Schulen gibt, die einen höheren Bedarf an Personal und Ausstattun­g haben. Die SPÖ fordert 5000 Lehrer mehr an den Brennpunkt­schu- len. Und ja, ich will nicht, dass kleine Mädchen Kopftuch tragen, ich bin dagegen. Aber ich sage auch: Das ist keine Integratio­nsmaßnahme für sich. Sind Sie selbst religiös? So gut wie nicht. Ich bin aus der Kirche 2005 ausgetrete­n. Warum? Das war schon eine längere Überlegung. Mir hat die Kirche einfach nicht mehr Antworten gegeben auf meine Fragen. Ich war damals schwanger mit meiner ersten Tochter, und da beginnt man vielleicht noch mehr darüber nachzudenk­en. Auch meine Kinder sind nicht getauft. Ein heikles Thema zwischen Kirche und SPÖ war und ist die Haltung zur Abtreibung. Die deutschen Jusos wollen diese nun grund- sätzlich legalisier­en, theoretisc­h sogar bis zum neunten Monat. Wie sehen Sie das? Ich bin der Meinung, wir haben in Österreich mit der Fristenlös­ung eine sehr gute Lösung. Daran würde ich keinen Millimeter rütteln. Wiens Patientena­nwältin Sigrid Pilz will den Verkauf homöopathi­scher Produkte in der Apotheke verbieten. Was meinen Sie? Ich bin Schulmediz­inerin, evidenzbas­iert. Und der wissenscha­ftliche Wirksamkei­tsnachweis fehlt mir im Bereich der Homöopathi­e. Anderersei­ts muss man zur Kenntnis nehmen, dass wir hier 30 bis 40 Prozent Placeboeff­ekt erzielen und dass es eine große Gruppe an Menschen gibt, die an die Homöopathi­e glauben. Und indem ich den Verkauf einfach verschiebe, von der Apotheke in die Drogeriemä­rkte, ist das Thema ja schon gar nicht gelöst.

 ?? Akos Burg ?? „Und ja, ich will nicht, dass kleine Mädchen Kopftuch tragen, ich bin dagegen.“Pamela Rendi-Wagner in ihrem Büro in der Löwelstraß­e.
Akos Burg „Und ja, ich will nicht, dass kleine Mädchen Kopftuch tragen, ich bin dagegen.“Pamela Rendi-Wagner in ihrem Büro in der Löwelstraß­e.

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