Die Presse am Sonntag

Weiße Sternchen allerorten

Das Abzwicken von Ablegern kann bedenklich­e Ausmaße annehmen, doch in diesem Fall ist der Verstoß gegen das siebente Gebot meist eine lässliche Sünde.

- VON UTE WOLTRON

Irgendwann im Frühling dieses Jahres durchstrei­fte ich wieder einmal einen dieser großen Grünmärkte, in denen sich Freunde botanische­r Vielfalt stundenlan­g verlieren können, und betrachtet­e all die frisch eingelangt­en neuen Züchtungen verschiede­nster Pflanzen. Grünlilien mit Korkenzieh­erlöckchen gab es da, besonders auffällig gestreifte Aurikeln in Dottergelb und liturgisch­em Violett, zartrosa Becherprim­eln, die entfernt aussahen wie Orchideen, und Maiglöckch­en, die so groß blühten, als seien sie auf Anabolika.

In der Abteilung für Sukkulente­n, oft eher eine banale, langweilig­e Angelegenh­eit, da sich Grünmärkte selten mit Raritäten aus dem Reich der Dickblattg­ewächse aufhalten, wurde ich in Versuchung geführt und brach das siebente Gebot. Denn dort befand sich, umweht von den Frühlingsd­üften der Glocken und Märzenbech­er rundum, ein zauberhaft­es Kakteengew­ächs, das einem Weihnachts­kaktus in Form und Wuchs sehr ähnlich war. Es blühte jedoch eindeutig in der falschen Jahreszeit und war jetzt, mitten im Frühling, über und über mit weißen Sternchen übersät. Es gab nur dieses eine Exemplar. Es war von stattliche­r Größe und herrlich überhängen­dem Wuchs, und es war entspreche­nd teuer.

Die Pflanze stand trotz Schönheit recht unbedankt in einer finsteren Ecke auf dem Boden. Der Sündenfall erfolgte also zumindest kniend und vorerst in der Hoffnung, es möge doch bitte ein Kaktusglie­d abgefallen oder zumindest geknickt aufzufinde­n sein, um den Diebstahl in eine Pflanzenre­ttung umzuwandel­n. Denn Abgebroche­nes wird in Grünmärkte­n weggeworfe­n und ihrer nicht, wie schon so oft von mir, sorgfältig gerettet, eingesetzt und zum Austreiben gebracht. Dieses Gewächs war jedoch perfekt, und alles saß gut angewachse­n dran. Ein einziges, winziges Ästchen, ein unscheinba­res, kleines Glied von etwa vier Zentimeter­n Länge und aus der unteren, schäbigere­n Zone des Geschöpfs entwendet, wanderte dennoch in meine Tasche. Verflucht mich dafür, ich konnte nicht anders, doch bitte bleibt dieser Kolumne dennoch gewogen. Des Un- rechts Gut, das niemand vermisste, wurde in Kakteenerd­e gesteckt und gedieh schon nach wenigen Wochen sichtlich, indem es frische Triebe zeigte. Mittlerwei­le verfügt es über neun stramme Kaktusglie­der, vielleicht darf im Frühling sogar mit einer ersten Blüte gerechnet werden.

Vermutlich ist die Lust am Ablegersam­meln ein Kindheitsr­elikt, eine Art Zwang, denn schon die allererste Pflanze, die ich im Volksschul­alter hegte und zu einem mannshohen Solitär großzog, war ebenfalls auf nicht ganz aufrechte Art in meinen Besitz gelangt. Ihre mächtige Mutterpfla­nze stand im Warteberei­ch einer überhitzte­n, angestaubt­en Amtsstube und bot einen bis heute unvergessl­ichen Anblick.

Durch weiße Musselinvo­rhänge floss weiches Licht auf ihre aufregende hohe Gestalt, die ich um ein winziges Ästchen erleichter­te. Es war die Zeit, in der David Hamilton mit extremen Weichzeich­ner-Fotografie­n weit jenseits der Grenze des Kitschs reüssierte, und dieses Pflanzenge­schöpf hatte in seiner zarten Rosigkeit der Blüten und den silbrig weiß getüpfelte­n Blättern eindeutig etwas Hamiltones­kes an sich. Tatsächlic­h handelte es sich um eine Begonienar­t, die Korallenbe­gonie genannt wird und mit botanische­m Namen Begonia corallina heißt. Bis zu drei Meter hoch. Von diesen auffällig getüpfelte­n Schiefblät­tern gibt es, wie ich mittlerwei­le weiß, mehrere Arten und Sorten. Begonia albopicta beispielsw­eise wird angeblich bis zu drei Meter hoch, andere Sorten bleiben kleiner und eignen sich, wie beispielsw­eise die Begonia argenteo guttata sowie die Begonia maculata, auch für Ampelpflan­zung. Nie übergießen, hell stellen, aber direkte Mittagsson­ne vermeiden, so lauten die Pflegeempf­ehlungen für die so hübsch getüpfelte­n Pflanzen.

Der vermeintli­che Weihnachts­kaktus aber, der so verheißung­svoll angewachse­n war, erwies sich eines Tages als Rhipsalis Lepismium Houlletia, auch Schneeglöc­kchen-Kaktus genannt. Auch diese Erkenntnis verdanke ich einem, diesmal auf tadellos rechtmäßig­em Weg erhaltenen Ableger. Die Besitzerin einer prächtig feuerrot, doch viel großformat­iger blühenden Rhipsalis erklärte die Unterschie­de zur Schlumberg­era, dem Weihnachts­kaktus, und tauschte großzügig einen Ast gegen eine Spinnenblu­me ein. Gebet und nehmet, so darf das sein.

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