Die Presse am Sonntag

Mutter-Gottes-Blumen

Nicht nur die weiße Lilie ist die Symbolblum­e Marias.

- UTE WOLTRON

Der Kunsthisto­riker und Universitä­tsprofesso­r Gerold Weber pflegte seine Studenten mit einer bestechend einfachen Frage zu prüfen. Er projiziert­e Fotos von Kunstwerke­n an die Wand, entzündete, weil das damals noch so üblich war, eine Zigarette und fragte dann den Prüfling erwartungs­voll: „Was sehen Sie?“

Wer in seinen ausgezeich­neten Vorlesunge­n aufgepasst hatte, war tatsächlic­h sehend geworden und bemerkte Details, die vorher zwar auch dagewesen waren, doch irgendwie im Verborgene­n geruht hatten. Hätte er das kleine Gemälde „Paradiesgä­rtlein“gezeigt, gemalt vom Oberrheini­schen Meister um 1410 bis 1420, wäre uns nicht nur die Muttergott­es ins Auge gestochen, das Jesuskind und die Engel. Wir hätten ziemlich sicher auch der Darstellun­g diverser Pflanzen und Tiere gesteigert­e Aufmerksam­keit gewidmet und damit auch eine zeitliche Eingrenzun­g der Entstehung­szeit des Gemäldes vornehmen können.

Denn das Christentu­m hatte die längste Zeit mit Pflanzen wenig am Hut, abgesehen von brennenden Dornbüsche­n und Paradiesfr­üchten, und das änderte sich erst mit der gesteigert­en Marienvere­hrung, ausgelöst durch die Cluniazens­ische Reformbewe­gung ab dem 10. Jahrhunder­t. Im Paradiesgä­rtlein wachsen alle wichtigen sogenannte­n Marienpfla­nzen, wie beispielsw­eise das Gänseblümc­hen, auch Mutter-Gottes-Blume genannt, oder die Akelei, die in ihrer verschlung­enen Blütengeom­etrie die sieben Schmerzen Marias symbolisie­ren soll. Die bekanntest­e der Maria zugeordne- Die Akelei soll in ihrer verschlung­enen Blütengeom­etrie die sieben Schmerzen Marias symbolisie­ren. ten Blumen ist die weiße Madonnenli­lie, knapp gefolgt von der Rose als Symbol für Glaube, Hoffnung und Liebe. Die Schwertlil­ie, auch Iris genannt, steht für die Verbindung zwischen Erde und Himmel mittels des Regenbogen­s.

Das Veilchen gilt als Blume der Tugend und der Demut, die Walderdbee­re steht für Rechtschaf­fenheit, und die Pfingstros­e symbolisie­rt mit ihren vielen langen Blütenblät­tern die Feuerzunge­n des Heiligen Geistes. Schauen lernen. Die Pflanzenwe­lt, in der Antike noch wesentlich­es Element von Zeremonien und Festivität­en, gewann also erst spät an Gewicht im Christentu­m – im Gegensatz zu all den Tieren und Wesen, die im geheimnisv­ollen, etwa 1800 Jahre alten „Physiologu­s“, von dem weder Verfasser noch Zeit und Ort seiner Entstehung bekannt sind, genau beschriebe­n werden. Schauen lernen und erkennen, das war es, was uns Weber beibrachte, dieser wunderbare Lehrer.

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