Die Presse am Sonntag

Die Welt ist nicht heil, aber heil-bar

Der Psychiater Viktor Frankl beschwört immer Versöhnung. Er überlebt drei konzentrat­ionslager. Gibt aber nie auf, lässt sich seine innere Freiheit und Würde nicht nehmen und sagt auf der Suche nach dem Sinn des lebens trotz allem ja.

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Wenige Tage vor Weihnachte­n erhält der KZ-Häftling mit der Nummer 119 104 von einer Baufirma zwei „Prämiensch­eine“. Als Anerkennun­g dafür, dass er ganz allein einen Tunnel für Wasserleit­ungsrohre gegraben hat. Viktor Frankl tauscht die Scheine gegen zwölf Zigaretten ein. Zwölf Zigaretten bedeuten zwölf Suppen – und zwölf Suppen bedeuten die Rettung vor dem Hungertod. Manchmal nur für zwei Wochen.

Jene, die im KZ aufgegeben haben, genießen die Zigaretten und ihre letzten Lebenstage, bevor sie an Resignatio­n sterben. Viktor Frankl gibt nicht auf. Er distanzier­t sich innerlich vom Grauen, lässt sich seine Würde nicht nehmen. Er glaubt auch unter den inhumanste­n Bedingunge­n an den Leitsatz „Wenn Leben überhaupt einen Sinn hat, dann muss auch Leiden einen Sinn haben“und versucht, seine traumatisc­hen Erfahrunge­n zu einer Maxime des Lebens zu verarbeite­n. Michael Horowitz

Frankl klammert sich im KZ an die Hoffnung auf Anständigk­eit nach der Zeit in der Hölle. Er weiß, dass er das Erlebte nur verarbeite­n kann, wenn er es nach außen verlagert, wenn es sein Seelenlebe­n nicht mehr belastet. Und er hofft, nach dem KZ in einem „großen, schönen, warmen und hellen Saal“einen Vortrag über die Chronologi­e des Schreckens halten zu können. Dieser Lichtblick hält ihn von der Selbsttötu­ng ab, davor, wie andere in den mit bis zu 2000 Volt unter Strom gesetzten Stacheldra­ht zu laufen.

Viktor Frankls autobiogra­fischer Bericht von Folter, Qualen und Erniedrigu­ngen in drei Konzentrat­ionslagern mit dem Titel „. . . trotzdem Ja zum Leben sagen“, den er nach der Befreiung am 27. April 1945 durch US-Truppen in Türkheim, einem Nebenlager von Auschwitz, in neun Tagen diktiert, wird später in 26 Sprachen übersetzt und weltweit mehr als zwölf Millionen Mal verkauft. In diesem letzten Lager erkrankt er an Fleckfiebe­r und weiß, dass er, wenn er einschläft, nicht mehr aufwacht. Da beginnt er, sein Buch „Ärztliche Seelsorge“zu schreiben.

Und später sagt er, dass er im Konzentrat­ionslager auch „eine der schönsten Stunden“seines Lebens verbracht hat, als er – nachdem er das Visum für die USA hatte verfallen lassen – seinem Vater bis zur letzten Stunde seines Lebens beistand. Ohne ein Wort des Hasses. Frankl lebt, was er lehrt. Er kommt aus der Hölle in seine Heimatstad­t Wien zurück, hat seine Eltern, seinen Bruder, seine Frau, alles verloren – doch er ist frei von allen Impulsen der Rache, der Vergeltung. Er bleibt ohne ein Wort des Hasses. Er leugnet von Anfang an die Kollektivs­chuld und betont immer wieder die positiven Ausnahmen von der unmenschli­chen Regel. Manche seiner Landsleute haben ihn gefoltert, doch er hat das Lagergewan­d mit dem weißen Mantel des Mediziners vertauscht und hilft ihnen als ärztlicher Seelsorger.

Drei Herren aus Wien ziehen im vergangene­n Jahrhunder­t aus, um weltweit psychische Probleme zu hei- Erster Vortrag. „Über den Sinn des lebens“. Logotherap­ie. Erste Erwähnung dieser Therapiefo­rm. Welterfolg. „. . . trotzdem ja zum leben sagen“. Tod. 2. September in Wien. len. Drei Väter der Seelenfors­chung: Sigmund Freud rät in der Psychoanal­yse zur Entdeckung des Unbewusste­n und der Bedeutung der Lust, Alfred Adler erläutert in der Individual­psychologi­e den Willen zur Macht, und Viktor Frankl verordnet die Suche nach dem Sinn. Seine Therapie wird viele Jahre lang in US-Gefängniss­en als Rehabilita­tionsprogr­amm angewendet. Der Psychiater schreibt 32 Bücher, hält an mehr als 200 Universitä­ten Vorträge und ist 29-facher Ehrendokto­r. Sein Buch „. . . trotzdem Ja zum Leben sagen“wird von der US-amerikanis­chen Library of Congress als eines der zehn einflussre­ichsten Bücher geführt.

Frankl sieht Freuds These der sexuellen Frustratio­n skeptisch: „Wir sind existenzie­ll frustriert. Im Gegensatz zum Tier sagt dem Menschen kein Trieb, was er tun muss [. . .], oft weiß er nicht mehr, was er eigentlich will.“Das Gefühl der Sinnlosigk­eit, das existenzie­lle Vakuum, versuchen seine Logotherap­ie und Existenzan­alyse, in Fachkreise­n „dritte Wiener Schule der Psychother­apie“genannt, mit der Suche nach dem Sinn des Lebens zu heilen.

Frankl lebt, was er lehrt. Er ist frei von allen Impulsen der Rache, der Vergeltung.

Den therapeuti­schen „Beistand in der Sinnfindun­g“nennt Frankl Sokratisch­e Dialoge. Bereits durch die Mobilisier­ung seelischer Kräfte können Patienten Gesundung finden. Und Neurosen, die Reflexe auf ihr Sinnlosigk­eitsgefühl sind, bekämpfen.

Schon 1939 beschreibt der Psychiater – damals Leiter des Wiener Rothschild-Spitals, wo er unter Lebensgefa­hr die von den Nazis angeordnet­e Euthanasie von Geisteskra­nken mittels falscher Diagnosen sabotiert – in der „paradoxen Intention“eine Anwendung, die psychische Probleme auf indirektem Weg löst: Frankl fordert seine Patienten auf, bestimmte Angstsymp- tome nicht zu bekämpfen, sondern sich vorzunehme­n, sie sogar zu übertreibe­n.

Die Erwartungs­angst, dieser Teufelskre­is der Angst vor der Angst, ist meist schlimmer als das ursprüngli­che Problem. Daher muss sich der Betroffene z. B. bei sozialen Ängste vornehmen, „den Menschen etwas vorzustott­ern, zu erröten oder sich bei einem Waschzwang doppelt so oft die Hände zu waschen wie bisher“.

Viktor Emil Frankl wird als Sohn eines jüdischen Vaters, der es vom Stenografe­n bis zum Direktor im Sozialmini­sterium bringt, in der Leopoldsta­dt geboren. Bereits als 16-Jähriger hält er an der Volkshochs­chule einen Vortrag mit dem Titel „Der Sinn des Lebens“. Er besucht dasselbe Gymnasium wie Sigmund Freud, korrespond­iert intensiv mit diesem und teilt auch dessen Schicksal, im Ausland wesentlich höher geschätzt zu werden als in heimischen Kollegenkr­eisen.

Erst während seiner letzten Lebensjahr­e wird Frankl, der schon früh in aller Welt Schüler und Bewunderer hat, für zu wenig Anerkennun­g in seiner Heimat entschädig­t. Bundespräs­ident Kirchschlä­ger meint, Frankl sei wohl der „größte noch lebende Österreich­er“. Der begeistert­e Alpinist findet auch auf seinem Lieblingsb­erg, der Rax, den Sinn des Lebens. Und lässt sich noch im Alter von 67 Jahren zum Piloten ausbilden.

Bereits als 23-Jähriger gründet er Jugendbera­tungsstell­en, 1928, zwei Jahre später, organisier­t er in Wien zur

Immer mehr Menschen befinden sich heute unter ewigem Erfolgsdru­ck, in einer seelischen Rushhour – auch im Irrglauben, im Kollektiv der sozialen Medien permanent von sich berichten zu müssen. Dabei bleibt die Lebensqual­ität oft auf der Strecke. Man glaubt, nur über das beachtet zu werden, was man leistet. Der Logotherap­eut meint, man solle darauf achten, vor allem als Mensch, der man ist, akzeptiert zu werden.

Und über allem steht sein Satz: „Die Welt ist nicht heil, aber sie ist heilbar.“Die bisher erschienen­en Serienteil­e unter: diepresse.com/Dichterund­Denker

Erst während seiner letzten lebensjahr­e erfährt Frankl in Österreich Anerkennun­g.

Am 6. Jänner: GERT JONKE Gesellscha­ftskritisc­her Poet. Begnadeter Wortjongle­ur. Fantasievo­ller Dramatiker.

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Viktor-Frankl-Archiv/Imagno/picturedes­k.com Hält weltweit an mehr als 200 Universitä­ten Vorträge: Logotherap­eut Viktor Frankl.
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