Der (un-)christliche Kampf um die Sonntagsruhe
Der Sonntag ist vielen Österreichern heilig. Das heißt nicht, dass sie gläubige Kirchgänger sind. Wie viel Religion steckt in der Verteidigung des „ältesten Sozialgesetzes der Menschheit“? Über den Wochentag, an dem sich Kirche, Gewerkschaft und Wirtschaf
An der sonntäglichen Stille des Wiener Grabens scheiden sich die Geister. Strahlen dunkle Schaufenster im Herzen Wiens Ruhe oder Anachronismus aus? Die ÖVP fand Letzteres und probierte diesen Advent einen neuen Vorstoß im endlosen Ringen um die Wiener Sonntagsöffnung.
Vor zwanzig Jahren trug so ein Versuch der Regierung 270.000 Unterschriften gegen Sonntagsarbeit und eine öffentliche Ermahnung des damaligen ÖVP-Wirtschaftsministers Johann Farnleitner von Österreichs Bischöfen ein. Farnleitner solle sich seiner Wurzeln in der katholischen Kirche erinnern.
Das passiert heute nicht mehr, zumindest nicht öffentlich. Aber die Frage ist seit 20 Jahren dieselbe. Und der Wiener Graben ist ihr ungewolltes Testimonial. Darf oder muss der Handel in einer Hauptstadt wie Wien sonntags aufsperren, und sei es nur in wenigen Stadtteilen? In Paris, London, sogar in Rom, dem Sitz des Vatikans, haben die Geschäfte schließlich offen. Katholischer Applaus. Wobei im streng katholischen Italien Fünf-Sterne-Chef Luigi Di Maio zurzeit alles daran setzt, das rückgängig zu machen. Das Land hatte die Ladenöffnungszeiten in der Krise 2012 stark liberalisiert. Di Maio bekommt Applaus von Kirche und Gewerkschaften. Und heftige Kritik von Ex-Premier Matteo Renzi: „Di Maio behauptet, dass Sonntagsarbeit die Familie zerstört. Er lebt auf dem Mars.“
Franz Georg Brantner würde ihm widersprechen. Er nennt den Sonntag die „synchronisierte Freizeit“, die die Gesellschaft als sozialen Kitt braucht. „Was fängt eine berufstätige Mutter mit einem freien Tag unter der Woche an?“Brantner ist oberster sozialdemokratischer Gewerkschafter im Handel und gläubiger Christ. Und er ist seit mehr als einem Jahrzehnt Sprecher der „Allianz für den freien Sonntag“. Es ist eine bunte Allianz. In ihr finden sich neben den christlichen Kirchen Österreichs der Gewerkschaftsbund, die Arbeiterkammer, der Alpenverein, die Freiwillige Feuerwehr, der Blasmusikverband und die Berufsgemeinschaft der Pfarrhaushälterinnen. „Ich gebe ehrlich zu, dass wir alle aus verschiedenen Motivationen für den Sonntag kämpfen“, so Brantner.
Für Maria Langmaier, die die Allianz für die katholische Kirche koordiniert, ist die eigene Motivation klar: „Du sollst den Tag des Herrn heiligen“– das dritte Gebot aus dem Alten Testament hat für sie Gültigkeit. Aber Langmaier weiß, dass die Argumentationsbasis für den arbeitsfreien Sonntag breiter sein muss, damit die Kirche nicht allein dasteht. Laut der jüngsten Europäischen Wertestudie glauben zwar 73 Prozent der Österreicher an Gott, aber nur 15 Prozent gehen 2018 jede Woche in die Kirche. Brantner nennt das dritte Gebot breitentauglich das „älteste Sozialgesetz der Menschheit“. Und auch die katholische Kirche ist in ihrer Wortwahl moderater geworden. Franziskus plädiert nun für die Sonntagsruhe als „Gradmesser für die menschliche Qualität unseres Wirtschaftssystems“. Das klang bei Johannes Paul II. in den Neunzigern noch anders: Der Wechsel zwischen Arbeit und Ruhe sei „gottgewollt“und das Fernbleiben von der Messe eine „schwere Sünde“.
In der plakativen Diskussion rund um die Ladenöffnung, in die sich die Kirche gern einschaltet, wird oft vergessen, wie normal Sonntagsarbeit für Ärzte, Taxifahrer, Kellner und viele andere Berufe ist. 984.000 Österreicher arbeiteten laut Statistik Austria 2017 am Sonntag, 654.000 regelmäßig. „Die Menschen müssen selbst entscheiden, wann sie arbeiten und einkaufen wollen“, sagte Stefan Fanderl, Chef der großen deutschen Kaufhauskette Karstadt im Vorjahr. Auch bei den Nachbarn ist der Sonntag – trotz liberalerer Öffnungszeiten – konstanter Reibepunkt zwischen Gewerkschaft, Kirche und Arbeitgebern. Fanderl argumentiert wie die Kollegen in Österreich: Das Verbot bevormunde den Kunden. Der Sonntag bringe mehr Jobs, mehr Umsatz, zufriedene Touristen und setzte der stets verfügbaren Onlinekonkurrenz etwas entgegen.
Ist es zynisch, speziell den Handel schützen zu wollen? Donald Tusk sagte in seiner Zeit als Polens Regierungschef Ja. Es könne längst keine Rede von einem arbeitsfreien Tag für alle sein. Das verhallte allerdings relativ ungehört, die jetzige nationalkonservative Regierung will dem sonntäglichen Kaufrausch ab 2020 einen großen Riegel vorschieben.
Zynisch? Der Handel sei mit seinen Öffnungszeiten eben „der Taktgeber für die Gesellschaft“, sagt Gewerkschafter Brantner. „Wir sprechen jedem Kollegen, der an Sonn- und Feiertagen arbeitet, unsere Hochachtung aus, und wir sind Realisten genug, dass wir die Uhren nicht zurückdrehen wollen. Aber früher ist auch nicht die Welt untergegangen, obwohl die Geschäfte Samstag um 13 Uhr zugemacht haben.“Jetzt sei der Samstag ein normaler Einkaufstag und die Ruhe dahin.
»Ich gebe zu, dass wir alle aus verschiedenen Motivationen für den Sonntag kämpfen.« »Die Welt ging nicht unter, als die Geschäfte am Samstag um 13 Uhr zugemacht haben.«
Der Sonntag blieb der Gesellschaft wichtig. Dabei ist die Genese interessant: Schon im antiken Israel gibt es die Siebentagewoche – sie endet allerdings am Samstag, der den Juden als siebenter Tag heilig war. Am Sabbat war und ist Arbeiten ausdrücklich verboten. Erst das Christentum machte mit dem „Sonnentag“den ersten Wochentag zum letzten, weil es nicht mehr am Alten Testament hing, sondern an diesem Tag die neutestamentarische Auferstehung Christi feierte. Erst später wurde aus dem Tag der fröhlichen Zusammenkünfte unter Zutun römischer Kaiser und mittelalterlicher Kardinäle ein Feiertag mit immer strengeren Regeln, an dem nicht gearbeitet werden durfte. Bis in der Zeit der Industrialisierung in den Fabriken all die Ruhegesetze nicht mehr galten – und Gewerkschaften und Kirchen ineinander ungleiche Verbündete fanden.
Was davon sei noch in den Köpfen übrig? Langmaier formuliert es vorsichtig: „Der Wunsch nach einem besonderen Tag, nach einem Tag, wo ich nicht funktionieren muss.“Viele Menschen würden sie fragen: „Darf ich für den freien Sonntag sein, wenn ich nicht in die Kirche gehe?“„Natürlich“, sage sie dann. Es gehe schließlich um ein gutes Leben für alle. Und das sei etwas sehr Christliches.