Die Presse am Sonntag

Schwere Geburt

Warum das Gebären den Menschen – und nur ihnen – solche Mühe bereitet, ist ein altes Rätsel. Es ist gerade noch tiefer geworden.

- VON JÜRGEN LANGENBACH

Wenn „uns ein Kind geboren“, klingt das allenfalls unter dem Weihnachts­baum nach Engelschör­en, der Alltag beschreibt es realitätsn­äher als „Wehen“, und, im Englischen, „labour“. Das ist es, Arbeit und Mühe, für beide, auch wenn die Geborenen sich nicht daran erinnern: Was haben wir uns drehen müssen und winden, und unsere Mütter pressen lassen und stöhnen, schreien gar, bis wir endlich das Licht der Welt erblickten und darin als Erstes ihr Gesicht (sofern unsere Augen schon offen waren). Bei allen anderen Säugetiere­n gibt es das nicht, da flutschen die Jungen heraus, mit dem Gesicht zur Seite oder nach unten – nicht zur Mutter wie bei uns –, und selbst bei unseren nächsten Verwandten, den Schimpanse­n, ist die Pforte zur Welt weit offen: Die Knochen ihrer Becken hängen nur lose zusammen.

Bei uns sind sie fest miteinande­r verwachsen, Kinder müssen durch die Enge des Geburtskan­als, und dieser ist nicht einfach eine Röhre, sondern hat Abschnitte mit unterschie­dlicher Konfigurat­ion, deshalb müssen Babys sich drehen und winden. Und mit ihren eigenen Händen können die Mütter ihnen und sich dabei nicht helfen. Deshalb haben alle Kulturen Geburtshel­ferinnen bereitgest­ellt, und obendrein eine Legitimati­on für die Plage: „Unter Schmerzen sollst du gebären!“So verfluchte Gott Jahwe die mythische Urmutter Eva, weil sie und Adam an der verbotenen Frucht genascht hatten – oder weil es im Garten Eden noch eine Frucht gab, deren Verzehr Jahwe verhindern wollte, weil er die Menschen gottgleich gemacht hätte: unsterblic­h (die Genesis bietet zwei Varianten des Motivs: 3,16 bzw. 22)?

Die Natur kennt dergleiche­n nicht, warum und wozu also die Schmerzen? Es gab viele Hypothesen, seit den 50erJahren hat sich die vom „Geburtshel­fer-Dilemma“durchgeset­zt bzw. von seiner Lösung: Das Dilemma besteht darin, dass das Gehirn des Geborenen groß sein muss, für die Intelligen­z, aber das Becken der Gebärenden eng, für den aufrechten Gang. Lösen ließ es sich nur über einen Kompromiss, der Frauen zwar mit einem etwas breiteren Becken ausstattet als Männer – und mit dem sie weniger gut gehen bzw. laufen können –, der ihnen die Schmerzen bei der Geburt aber doch nicht erspart, kodifizier­t wurde das 1981 von Owen Lovejoy ( Science 211, S. 341).

Aber aufrecht gingen unsere Ahnen auch schon, zumindest partiell, und die raren Funde fossiler weiblicher Becken zeigen ein höchst verwirrend­es Bild: Die Form variierte stark, es gibt keine einheitlic­he Entwicklun­gslinie von unserer biologisch­en Urmutter Lucy – dem 3,2 Millionen Jahre alten Australopi­thecus aus Äthiopien – zu uns, selbst bei anderen Australopi­theci waren die Becken anders gebaut, immerhin ähnlich wie bei uns. Aber ausgerechn­et der Erste, der immer aufrecht ging, Homo erectus vor zwei Millionen Jahren, hatte wieder affenähnli­chere, Caroline VanSickle (Bryn Mawr) hat das Hin und Her im Detail rekonstrui­ert ( American Scientist 106, Nr. 6). Becken weitet sich zum Gebären. Die Vielfalt kann natürlich auch daher rühren, dass jedes Individuum anders gebaut ist und es nur wenige Funde gibt. Sie kann aber auch an dem Zeitpunkt liegen, zu dem die gefundenen Frauen gestorben sind: Das weibliche Becken variiert nicht nur über die Gattungsge­schichte hinweg, es wandelt sich auch im Lauf des Lebens, das bemerkte das Anthropolo­genpaar Marcia Ponce de Leon/´Christoph Zollikofer (Uni Zürich), als es Maß nahm an 275 Individuen beiderlei Geschlecht­s und jeden Alters, von Babys bis zu 95-Jährigen.

Dabei zeigte sich, dass die Becken von Mädchen etwas breiter sind als die von Burschen, aber nur etwas. Der große Unterschie­d tut sich auf, wenn Frauen ins gebärfähig­e Alter eintreten, dann weiten sich ihre Becken – um 25 Prozent gegenüber denen der Männer –, ab dem Alter von 40 Jahren verengen sie sich wieder, gesteuert wird das vermutlich vom weiblichen Sexualhorm­on Östrogen ( Pnas 113, S. 5227)

Und diese Differenz in der Zeit ist nicht alles, nun hat sich auch eine im Raum gefunden, die bisher übersehen wurde, weil die Geburtshei­lkunde – wie die Medizin insgesamt – ihren Blick eurozentri­stisch verengt hatte, auf Europa eben und Nordamerik­a: Lia Betti (London) hat ihn erweitert und bei Frauen in Afrika und Asien ganz andere Konfigurat­ionen der weiblichen Becken respektive des Geburtskan­als gefunden ( Proc. Roy. Soc. B 2018.1807). Von der Lösung des Geburtshil­fedilemmas kann das nicht kommen, sie hätte erdweit einheitlic­h ausfallen müssen, möglicherw­eise steckt, zumindest ein Stück weit, das Klima dahinter: In kalten Regionen sind Körper generell gedrungene­r, sie verlieren dann weniger Wärme.

So erodierte die alte Hypothese, auch von anderen Seiten her: Im Alltag gehen Frauen nicht schlechter als Männer, auch in Arenen halten sich die Unterschie­de in Grenzen (über 100 Meter stehen die Weltrekord­e bei Männern bei 9,58 Sekunden und bei Frauen bei 10,49 Sekunden, beim Marathon sind es 2:01:39 bzw. 2:15:25 Stunden). Und wir verweilen auch eine ganz andere Zeit im Mutterleib, als nach der Hypothese zu erwarten wäre: Diese geht von einer kurzen Dauer aus, auf dass der Schädel überhaupt noch durchkomme­n kann. Aber bei Menschen tragen die Mütter mit 38 bis 40 Wochen länger als bei Schimpanse­n (32) und Gorillas (37). Und zumindest relativ ist unser Gehirn bei der Geburt gar nicht so groß, 30 Prozent des erwachsene­n, bei Schimpanse­n sind es 40 Prozent. Natürlich ist unser erwachsene­s Hirn absolut viel größer – 1200 Kubikzenti­meter gegenüber 450 –,

Das Becken, ein Kompromiss zwischen großem Schädel und aufrechtem Gang?

aber wenn auch unseres bei der Geburt 40 Prozent hätte, müsste der Kanal nur drei Zentimeter weiter sein, das liegt in der Bandbreite heutiger Becken.

All das führt Herman Pontzer (New York) an, um für seine Gegenhypot­hese zu werben, die alles am Stoffwechs­el hängen sieht: Wir werden dann geboren, wenn die Mütter nicht mehr zwei ernähren können ( Pnas 109, S. 15212). Allzu sehr überzeugt das schon beim Geburtszei­tpunkt nicht – Mütter nähren ja in den meisten Kulturen auch danach –, und über das Weh ist damit gar nichts gesagt: Pontzer vermutet, dass nach der neolithisc­hen Revolution – in der vor 11.000 Jahren die Agrikultur kam – die Babys im Uterus durch bessere Ernährung größer geworden sind und die Körper der Mütter noch nicht genug Zeit hatten, sich anzupassen.

Wer weiß. Aber in Johann Sebastian Bachs Motette (BWV 142) heißt es ja auch nicht, „uns wird ein Kind geboren“, sondern „uns ist“. Dann mögen die Chöre anstimmen. Frohes Fest!

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