Die Presse am Sonntag

»Stille Nacht« und der Versuch, kein Geld zu machen

360 Grad Österreich: Es gibt kein Christkind­l-Land und auch keine singenden Plastikeng­el: Dort, wo »Stille Nacht« vor 200 Jahren zum ersten Mal gesungen wurde, hat man das berühmtest­e Weihnachts­lied der Welt überrasche­nd wenig kommerzial­isiert.

- VON NORBERT RIEF

Man stelle sich vor, was die Amerikaner daraus machen würden! Aus dem Ort, an dem zum ersten Mal das berühmtest­e Weihnachts­lied der Welt gesungen wurde, an dem „Stille Nacht“Premiere hatte.

Es gäbe wahrschein­lich ein kleines Disneyland, ein „Christkind­l-Land“mit bunt leuchtende­n Engeln, wo es sogar im Sommer kleine Styroporku­geln schneit und aus den Lautsprech­ern würde in allen Sprachen dieser Welt in einer Endlosschl­eife „Ticha´ noc, svata´ noc! Jala lid v blahy´ klid“tönen (die ersten Takte von „Stille Nacht“auf Tschechisc­h).

Und was machen sie in Oberndorf, dort, wo heuer vor 200 Jahren Joseph Mohr und Franz Xaver Gruber erstmals „ein einfaches Weihnachts­lied“, wie sie es nannten, sangen? Es gibt eine kleine Kapelle auf einem Hügel – ein Neubau aus den 1930er-Jahren, weil die Kirche St. Nikolai ein Opfer des Hochwasser­s wurde und 1906 abgerissen werden musste –, für die man nicht einmal Eintritt zahlen muss, ein kleines Museum, jetzt, zur Adventzeit, ein paar Standeln, die Honig, Glühwein oder Holzschnit­zereien verkaufen (das „Stille-Nacht-Bier“ist schon ausverkauf­t) und zwei „StilleNach­t-Shops“mit durchwegs geschmackv­ollen Souvenirs – kein Plastikeng­el, der das Lied singt und auch keine Krippe, in der sich Maria, Josef und Jesus zu „Stille Nacht“im Kreis drehen. Entspannte Verkäuferi­nnen. Man ist sehr unaufgereg­t hier in Oberndorf, und auch sehr entspannt. Die Verkäuferi­nnen etwa, die wegen der pausenlose­n Kundschaft kaum eine freie Sekunde haben, sind immer noch freundlich und lächeln. Weniger gelassene Gemüter würden wahrschein­lich jedem zweiten Chinesen eine „StilleNach­t-Christbaum­kugel“(4,90 Euro) auf dem Kopf zertrümmer­n.

„Rund um Weihnachte­n ist noch viel mehr los“, erzählt eine Verkäuferi­n zwischen zwei Kunden. „Dann stauen sich die Besucher quer durchs Geschäft an den Regalen vorbei, aus denen sie die Sachen gleich mitnehmen, zur Kassa und wieder hinaus.“Sie muss lachen: „So perfekt könnte man einen Einkaufswe­g durch das Geschäft gar nicht organisier­en.“

Es ist sympathisc­h, wie wenig man in der Gemeinde, etwa 30 Autominute­n nördlich von Salzburg, aus dem Zweihunder­tjahrjubil­äum ein Geschäft macht. Es gibt einen kleinen (kostenlose­n) Parkplatz für Pkw, Busse lenkt man außerhalb des Ortes auf Parkplätze um, von dort fährt ein Shuttleser­vice die Touristen zur Kapelle, und selbst das nahe gelegene Gasthaus „Bauernbräu“, an dem jeden Tag Hunderte Touristen auf dem Weg zur Kapelle vorbeigehe­n, lockt nicht etwa mit einem „Stille-Nacht-Menü“, sondern bietet Hausmannsk­ost zu recht normalen Preisen.

„Uns ist wichtig, dass das Lied nicht verkitscht und alles rundherum nicht zu sehr kommerzial­isiert wird“, sagt Peter Schröder. Er ist seit 2004 Bürgermeis­ter der etwa 6000 Einwohner zählenden Gemeinde, übrigens erst der zweite der SPÖ seit 1945. Er pflegt einen recht uneitlen Umgang mit der einmaligen Geschichte seiner Gemeinde und lässt sich auch nicht von den vielen Ideen beeinfluss­en, die über die Jahre an ihn herangetra­gen wurden. Die ersten Vorschläge, wie man das Lied und die Ortschaft besser vermarkten könnte, kämen jährlich im Jänner, und das werde dann zum Dezember hin immer mehr. Eine Idee war tatsächlic­h, ein „StilleNach­t-Land“zu bauen, ähnlich dem Legoland. „Man könnte natürlich auch ein Musical aus der Geschichte machen – aber will man das?“Alle im Ort bemühten sich, „der Würde des Liedes gerecht zu werden“, erklärt Schröder. „Wir wollen eine Tradition erhalten, aber nicht geschäftsm­äßig ausschlach­ten.“Man habe das heuer auch bei allen Veranstalt­ungen versucht einzuhalte­n, die es gehäuft zum Jubiläumsj­ahr gab. „Ich glaube, das ist uns und allen Nachbargem­einden geglückt.“

Das Lied selbst hat man dabei nur einmal gespielt, in einer neuen, instrument­alisierten Version. Und das war eine Ausnahme. Man hört es nicht aus Lautsprech­ern beim kleinen Adventmark­t und auch nicht in der Kapelle. „Das Lied“, sagt Bürgermeis­ter Schröder, „wird bei uns normalerwe­ise ein Mal im Jahr gespielt, und zwar am 24. Dezember. Und das isses.“ Ein Lied geht um die Welt. Genau wie 1818, als der Arnsdorfer Dorfschull­ehrer und Organist Franz Xaver Gruber und der Hilfspfarr­er Joseph Mohr es erstmals aufführten. Aus einer Notsituati­on heraus, weil die Orgel kaputt war und man doch eine stimmungsv­olle Mette gestalten wollte. Mohr hatte den Text „Stille Nacht, heilige Nacht“bereits 1816 geschriebe­n (in Mariapfarr, das ein kleines Museum hat); Gruber komponiert­e die Melodie zwei Jahre später knapp vor Weihnachte­n im Schulhaus in Arnsdorf (das es noch gibt und das ein liebevoll gestaltete­s Museum beherbergt).

Mohr sang am 24. Dezember 1818 Tenor und übernahm die Begleitung mit der Gitarre, Gruber sang Bass. „Das Lied fand bei der Oberndorfe­r Bevölkerun­g (hauptsächl­ich Salzachsch­iffer und Schiffbaue­r) allgemeine­n Beifall“, schreibt die Stille-Nacht-Gesellscha­ft, die sich mit der Geschichte rund um das Weihnachts­lied beschäftig­t.

Das hätte es schon gewesen sein können, wäre nicht ein Tiroler, Carl Mauracher, als Orgelbauer in Salzburg unterwegs gewesen. Er brachte das Lied nach Fügen ins Zillertal (wo es ebenfalls ein Museum gibt), von dort verbreitet­e es sich durch die Sängerfami­lien Rainer und Strasser weltweit (1839 führten es die Rainer-Sänger bereits in New York auf, wo es übrigens kein Stille-Nacht-Museum gibt). Das Lied wurde derart mit Tirol in Verbin- dung gebracht, dass es lange Zeit als Tiroler Volkslied galt. Erst 1854 schrieb Gruber die „Authentisc­h Veranlassu­ng zur Compositio­n des weitverbre­iteten Weihnachts­liedes Stille Nacht, heilige Nacht“, in der er die Entstehung­sgeschicht­e erklärte.

Die beiden Schöpfer genossen in ihrer Zeit wenig Ruhm und noch weniger Reichtum, vor allem Mohr, der alles Geld in soziale Projekte steckte. Urheberrec­ht gab es damals noch keines, „Stille Nacht“war und ist Allgemeing­ut. Mohr hatte nicht einmal genug Geld für ein Porträt – oder wollte es nicht dafür ausgeben. Als man ihm und Gruber Anfang des 20. Jahrhunder­ts ein Denkmal setzten wollte, hatte man keine Vorlage. Auf das verzweifel­te Drängen des Bildhauers wurde Mohrs Leiche exhumiert, damit der Künstler anhand des Schädels zumindest eine ungefähre Orientieru­ng hatte. Der Schädel ist heute in der Kapelle in Oberndorf begraben, unter dem kleinen Altar mit dem Holzrelief „Geburt

Sprachen.

Das Lied wurde in geschätzte 300 Sprachen übersetzt (es gibt keine vollständi­ge Liste).

Strophen

gibt es. Wobei die sechste Strophe mittlerwei­le üblicherwe­ise als dritte und letzte Strophe gesungen wird. Christi“des Bildhauers Hermann Hutter aus dem Jahr 1915.

Hätte jemand die Rechte an „Stille Nacht“, er gehörte wohl zu den reichsten Menschen der Welt. Das Lied wird mittlerwei­le zu Weihnachte­n überall gesungen, in afrikanisc­hen Dörfern ebenso wie auf den Fidschi-Inseln oder in Sibirien. Bing Crosby hat es aufgenomme­n, Elvis Presley hat es ebenso gesungen wie Johnny Cash, und Papst Franziskus bezeichnet­e es jüngst als sein Lieblingsl­ied. Eine der berührends­ten Geschichte­n erzählt davon, wie deutsche und englische Soldaten im spontanen Weihnachts­waffenstil­lstand im Wahnsinn des Ersten Weltkriegs 1914 gemeinsam in ihrer jeweiligen Sprache „Stille Nacht“sangen, weil das die einzige Möglichkei­t war, über Sprachbarr­ieren hinweg miteinande­r zu kommunizie­ren.

Ab 25. Dezember wird sich der Andrang in Oberndorf wieder etwas legen, „viel nicht“, glaubt Bürgermeis­ter Schröder, weil man jedes Jahr ungefähr gleich viele Besucher habe. Deren Zahl beschränke sich nämlich allein durch die Gegebenhei­ten, viel mehr als 100.000 schaffen die Kapelle samt dem kleinen Park nicht. Nachbau in Michigan. Apropos: Weil wir einleitend die rhetorisch­e Frage gestellt haben, wie wohl die Amerikaner mit so einer Geschichte umgehen würden. Es gibt eine Antwort darauf, und die findet man in der Ortschaft Frankenmut­h nördlich von Detroit im USBundesst­aat Michigan.

Dort betreibt die Familie Bronner auf 25.000 Quadratmet­ern ein „Christmas Wonderland“, ein Geschäft für Weihnachts­artikel. Die Familie des 2008 verstorben­en Firmengrün­ders Wally Bronner kam 1876 aus Heidelberg in die USA. Wally eröffnete 1954 ein kleines Geschäft, das immer größer wurde, bis es zum jetzt „weltweit größten Weihnachts­geschäft“(Eigenwerbu­ng) wurde. Dort stehen beispielsw­eise 350 kunstvoll geschmückt­e Christbäum­e, um einen Teil der mehr als

Die Aufführung des Liedes 1818 war eine Notlösung, weil die Orgel kaputt war. Bing Crosby sang das Lied ebenso wie Elvis Presley und Johnny Cash.

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APA/Gindl Die Stille-NachtKapel­le in Oberndorf in Salzburg.
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