Die Presse am Sonntag

Am Konservato­rium wäre Gruber durchgefal­len

Ein glattes »Nicht genügend« hätten die Professore­n einst für »Stille Nacht« vergeben, weiß Ernst Smole.

- VON WILHELM SINKOVICZ

„Fatto per la notte natale“heißt es auf der Partitur von Arcangelo Corellis Concerto grosso op. 6/8. Die wiegende „Pastorale“im 12/8-Takt, die das 1714 veröffentl­ichte Werk beschließt, wurde zum Urbild der Weihnachts­musik und steht, wie der 6/8-Takt unseres „Stille Nacht“-Ohrwurms, in der Tradition des „mediterran­en Pastorale“.

Franz Xaver Gruber hat also bei der Vertonung des Textes von Joseph Mohr einen musikalisc­hen Topos paraphrasi­ert, der seit Langem mit der Christnach­t assoziiert wurde. Allerdings hat er es, zumindest nach Ansicht des Dirigenten und Musikwisse­nschaftler­s Ernst Smole handwerkli­ch nicht besonders geschickt gemacht: „Gottlob hat er das Lied ,nur‘ für den Gebrauch durch das ,gemeine Volk‘ in einer Dorfkirche geschaffen und nicht für die Aufnahmepr­üfung an ein Konservato­rium, denn dort wäre er damit mit Bomben und Granaten durchgefal­len!“

Smole erklärt auch, warum: „Das Lied strotzt von schweren kompositio­nstechnisc­hen Fehlern! In früheren Zeiten galt die Musik als eine Wissenscha­ft, was angesichts der Zahlenverh­ältnisse im Bereich der Länge der Töne und der Tonhöhen plausibel ist. Und Wissenscha­ft benötigt für Selbst- vergewisse­rung und Imagepolit­ur Dogmen – damals wie heute!“

Daher, so Smole, folgte „auch die klassische, wissenscha­ftsgebunde­ne Kompositio­nslehre zur Zeit Franz X. Grubers strengen Regeln, deren mehrere diese weltberühm­te Melodie verletzt! Der Septimspru­ng etwa gleich nach dem Beginn hin zum ,Aaaaalles schläft‘ war ein absolutes No-go, denn dieser weite, dissonante Intervalls­prung galt als unsingbar.“

Überdies durften in jener Ära „volksliedh­afte Melodien den Tonumfang einer Oktave nicht überschrei­ten – Grubers Kompositio­n umfasst zwei Töne mehr, die heute übliche Fassung gleich deren drei! Weitere noch gravierend­ere Regelverle­tzungen ,verunstalt­en‘ den zweiten Teil des Liedes!“

Keine Chance also für Gruber am Konservato­rium. Zugegeben, die edleren „Pastoral“-Melodien stehen in Händels „Messias“und Bachs „Weihnachts­oratorium“, wo zu allem Überfluss noch die hübsche Geschichte von den Hirten erzählt wird, die mit ihren Blasinstru­menten den Gesang der Engel zu imitieren versuchen und daran scheitern; aber vielleicht darf auch bei Gruber der Wille fürs Werk stehen; erst recht, wenn unsereins mitsingt.

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