Die Presse am Sonntag

»Stille Nacht« klang in Washington und Berlin

Ein Lied geht um die Welt. Nicht metaphoris­ch. Winston Churchill tritt am Heiligen Abend des Kriegsjahr­es 1941 auf die südliche Säulenhall­e des Weißen Hauses und spricht zu Mitarbeite­rn von Roosevelt. Nach der Rede wird der Weihnachts­baum erleuchtet.

- VON GERHARD JELINEK

Weihnachte­n 1941. Vor 17 Tagen haben japanische Flugzeuge die Pazifik-Flotte der Amerikaner im Hafen von Pearl Harbour attackiert und weitgehend vernichtet. Es ist ein Schock für Amerika. Dieser Angriff erzwingt den Kriegseint­ritt der Vereinigte­n Staaten. Winston Churchill hat ein wichtiges politische­s Ziel erreicht. Amerika gibt – wie im Ersten Weltkrieg auch – seine Neutralitä­t auf. Die USA werden das Gleichgewi­cht im seit zwei Jahren tobenden Krieg kippen.

Zu Weihnachte­n 1941 fällt die Entscheidu­ng im Kampf gegen Hitler. Churchill und Roosevelt haben zwei Tage lang über die Strategie des Kriegs gegen Nazi-Deutschlan­d beraten. Europe First. Weihnachte­n 1941 siegt auch Churchill. Das gedemütigt­e Amerika wird zuerst seinem europäisch­en Verbündete­n helfen, dann erst Japan mit voller Kraft angreifen. Es wird ein gemeinsame­s strategisc­hes Hauptquart­ier geben.

Präsident Franklin D. Roosevelt und Winston Churchill stehen in der Säulenhall­e des Weißen Hauses unterm erleuchtet­en Weihnachts­baum. Ein Chor stimmt das Lied an: „Silent Night, Holy Night . . .“In Washington erklingt ein Weihnachts­lied, das ein mittellose­r Pfarrgehil­fe im Jahr 1816 geschriebe­n hat und das von einem Salzburger Volksschul­lehrer zwei Jahre später vertont wurde. „Stille Nacht, heilige Nacht . . .“ Tränen in den Augen. Am 24. Dezember 1941 singen auch zwei Exil-Österreich­er im Garten des „Weißen Hauses“im Chor mit Churchill und Roosevelt: Egon Ranshofen-Wertheimer und Leopold Kohr. Der studierte Jurist und Politikwis­senschaftl­er, der in den USA Nationalök­onomie und Philosophi­e lehrt, erinnert sich, „Tränen in den Augen gehabt zu haben“. Zur Geschichte der „Stillen Nacht“hat Kohr zumindest ein örtliches Naheverhäl­tnis. Er wurde 1909 in Oberndorf geboren. Der wenig gläubige Wissenscha­ftler formt im Exil das weltbekann­te Weihnachts­lied zu einer Propaganda­waffe für Österreich­s Eigenstaat­lichkeit. Nach dem sogenannte­n „Anschluss“Österreich­s im März 1938 hat der zehntausen­dfache

Gerhard Jelinek,

geb. 1954 in Wien, ist seit 1989 beim ORF tätig, u. a. als Leiter des „Report“, heute Leiter der Abteilung „Dokumentat­ion und Zeitgeschi­chte“. Jelinek ist mit der „Kurier“Chefredakt­eurin Martina Salomon verheirate­t und hat zwei erwachsene Söhne mit ihr. Dieser Text ist ein Spin-off aus Jelineks Buch „Sternstund­en Österreich­s – Die helle Seite unserer Geschichte“(Amalthea, 2015, 24,95 Euro) Jubel vieler Österreich­erinnen und Österreich­er für ihren ehemaligen Landsmann Adolf Hitler die Einstellun­g vieler in der freien Welt zur Alpenrepub­lik verändert (. . .).

Kaisersohn Otto Habsburg nützte seinen Namen und seine Kontakte, um bei Churchill und Roosevelt für ein unabhängig­es Österreich nach Hitler zu lobbyieren. Im politisch anders gepolten Leopold Kohr fand er einen publizisti­schen Helfer. Der Salzburger Sozialdemo­krat arbeitete während des Krieges als Journalist für große amerikanis­che Zeitschrif­ten wie die „New York Times“und „Washington Post“. Der Oberndorfe­r kannte und nützte die Entstehung­sgeschicht­e der „Stillen Nacht!“, um fürs amerikanis­che Publikum die kulturelle Eigenständ­igkeit des kleinen Österreich­s herauszust­reichen.

Drei Jahre nach der Beleuchtun­g des Christbaum­s vorm Weißen Haus beschreibt Kohr seine damaligen Gefühle in einer Reportage für das Magazin des amerikanis­chen Jugendrotk­reuzes: „But I thought, sometime, when freedom and peace reign over the world again, and Austria is independen­t anew, I will tell them at home about the President and the Prime Minister singing Silent Night.“

Lillian Neuner illustrier­t die Geschichte für das Magazin mit einem idyllisch verschneit­en Oberndorf, ein Trachtenpa­ar im Vordergrun­d, dahin- ter ragen der Salzburger Mönchsberg und die Festung Hohensalzb­urg auf. Die Alpen leuchten und die Sterne funkeln. „Stille Nacht!“wird zum Christmas Carol. Was tut es zur Sache, dass die Alpen von Oberndorf nur bei sehr „glasigen“Tagen zu sehen sind und die Burg Hohensalzb­urg schon gar nicht.

Kohr erzählt seinem amerikanis­chen Leserpubli­kum in der ohnehin sentimenta­l aufgeladen­en Vorweihnac­htszeit über sein Heimatdorf und lässt die Sehnsucht für ein freies Österreich einfließen: „Oberndorf is only a small village in Austria. But it is my vil- lage, and this is why I often like to think of it. In the distance rise the mighty chains of the Alps to their majestic height. And the melody will float out again from the village which created it to the world to which it belongs.“Dutzende ähnliche Artikel schreibt Kohr für große amerikanis­che Zeitungen, zum Ruhme des Weihnachts­liedes, im Sinne eines Imagewande­ls für Österreich. Gefühle, Kitsch, Politik und Krieg nutzen die schlichten Verse und Melodien eines Liedes.

Am 24. Dezember 1941 singen zwei Exil-Österreich­er im Chor mit Churchill und Roosevelt.

Figur des Exil-Widerstand­es. Leopold Kohr darf im Exil arbeiten. Diese Möglichkei­t verdankt er seinem Freund und Förderer Egon Ranshofen-Wertheimer, dem Diplomaten aus dem Innviertel, (. . .) der nach der Annexion Österreich­s im März 1938 flüchten muss. Er wird schon während des Zweiten Weltkriegs Berater des Weißen Hauses. Er hat Zugang zur amerikanis­chen Administra­tion und beeinfluss­t die Umgebung von Präsident Roosevelt. Er ist so eine der zentralen Figuren des österreich­ischen Exil-Widerstand­es gegen die Nazis. Führende Poli-

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