Die Presse am Sonntag

Die Grenzen der Gastfreund­schaft

In den Ferien wird es in vielen Innenstädt­en Europas eng. Die Suche nach Gegenmaßna­hmen läuft. Doch zunächst wäre es wichtig, über Tourismus anders nachzudenk­en – mit weniger und mehr Gefühl.

- LEITARTIKE­L VON ULRIKE WEISER

Enden die Ferien, findet eine Metamorpho­se statt. Touristen werden wieder zu Bürgern – und ärgern sich daheim über Touristen. 2018 machte der Begriff Overtouris­m die Runde, der britische „Telegraph“schlug ihn gar als Wort des Jahres vor. Overtouris­m meint die negativen Folgen von zu viel Tourismus – Stichwortg­eber sind Dubrovnik und die Kreuzfahrt­schiffe, Barcelona versus Airbnb etc. Zuletzt häuften sich die Berichte über Gegenwehr: Venedig will, wie auch in der Wachau diskutiert wurde, Eintritt für den Stadtkern verlangen, Rom Touristenb­usse aus dem Zentrum verbannen. Und der Wiener Tourismus-Direktor will Touristen zu Stoßzeiten in die Außenbezir­ke umleiten, z. B. zu den Ziegen am Müllberg am Rautenweg. Noch heuer soll es ein Konzept geben.

Beim ersten Hinhören klingt all das furchtbar kleinlich. Und altbekannt. Betonburge­n am Meer, übervolle Strände – Overtouris­m ist nicht neu, nur weil es ein Wort dafür gibt, oder? Trotzdem ist diesmal etwas anders, es trifft vermehrt Leute, die sich weniger gefallen lassen: Städter. Städteurla­ub ist po- pulär, aber anders als in ländlicher­en Tourismusr­egionen, wo viele persönlich profitiere­n, merkt der Großteil der Städter nur die negativen Folgen. Dazu kommt, dass Städte ohnehin stark wachsen. Auch ohne Touristen ist es in der U-Bahn und am Wohnungsma­rkt eng. Und auch ohne Touristen fremdeln viele in Europa mit ihren Innenstädt­en, weil hier passiert, was die Soziologin Saskia Sassen den Verlust der Mitte nennt: Internatio­nale Investoren kaufen Immobilien auf, aber die Menschen, die dort einziehen, haben andere Bedürfniss­e – mehr Luxus, weniger Nahversorg­er. So kann sich für die Bewohner bald das Gefühl einstellen, eher durch eine Kulisse zu wandeln als durch die eigene Stadt.

Apropos Gefühl: Tatsächlic­h wurde darüber bislang wenig geredet. Wer über Tourismus spricht, spricht über Zahlen, aber selten über die psychologi­sche Tragfähigk­eit der Gastgeber. Wobei diese schwer zu messen ist: Overtouris­m ist ein Mikrophäno­men. In einer Großstadt wie Wien fühlen sich die einen bedrängt, die anderen sind belustigt, wenn ein Tourist vorbeischa­ut. Weil Touristen extrem ungleich verteilt sind, ist Umlei- tung auch die Maßnahme der Stunde. Die freilich außer Acht lässt, dass nicht wenige Besucher „Reiseanfän­ger“sind. Nichts gegen die Ziegen am Müllberg – aber wer zum ersten Mal in Wien oder in Europa ist, den wird der Stephansdo­m doch mehr interessie­ren.

Was ist also zu tun? Frech zu erwarten, dass Touristen möglichst unauffälli­g Geld abliefern, das geht nicht. Wie meist ist es eine mühsame Suche nach maßgeschne­iderten Lösungen, nach Balance. Dafür braucht es aber nicht nur mehr, sondern auch weniger Gefühl. Elizabeth Becker, die über Overtouris­m schrieb, bevor er so hieß, plädiert für eine Entromanti­sierung des Reisens. Tourismus sei eine Industrie wie jede andere. Wenn ein Artikel ausverkauf­t sei, werde das ja sonst auch akzeptiert, sagt sie. Nur wenn es um Maßnahmen gegen die Überfüllun­g von Orten gehe, sei das plötzlich ein Verbrechen an der Gastfreund­schaft.

Aber genau um die zu erhalten, sollte man lieber früh nüchtern über ihre Grenzen nachdenken. Als Bürger – und als Tourist.

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