Der Arktis trotzen
Die Erkundung der Moschusochsen zeigt, in welche Abenteuer Feldforschung geraten und welche Unglücke sie anrichten kann.
Wir setzen uns hin, um an dem betäubten Weibchen zu arbeiten. Ich bedecke ihre Augen; sie halten tiefe Geheimnisse. Ich stelle mir Weisheit vor. Ich möchte ihre Welt kennenlernen, was sie sieht, denkt und fühlt. Ich stecke meine Finger in einen Plastikhandschuh und streife in ihrem heißen Darm herum. Warmer Schleim drückt sich gegen meine kalten Glieder. Ich gehe einen Zentimeter tiefer und komme siegreich mit einem Dutzend schleimiger Nuggets zurück.“
Das spielte sich anno 2008 bei minus 25,5 Grad Celsius in Alaska ab, der Berichterstatter ist der Wildbiologe Joel Berger, das betäubte Weibchen das eines Moschusochsen, und der angeschlagene Ton prägt in seiner Mischung aus Verehrung, bisweilen Mystifizierung der Natur und ihrer wissenschaftlichen Erkundung den ganzen als Buch präsentierten Bericht: Er fasst das jahrelange Mühen Bergers zusammen, Licht in das Leben dieser Tiere zu bringen, von denen man so wenig weiß, dass man sie mit einem höchst irreführenden Namen ausgestattet hat: Sie sind keine Ochsen, sondern Abkömmlinge von Ziegen, und sie produzieren kein Moschus, auch wenn der Urin der Männchen in Brunstzeiten reich mit Düften ausgestattet ist.
Man weiß nur, dass sie, die vor etwa 500.000 Jahren über die durch eine Eiszeit trocken gefallene Beringstraße von Sibirien her eingewandert sind, den unwirtlichsten Bedingungen trotzen, sie haben sich ein extrem dickes Fell zugelegt – es ist so dicht, dass die Inuit sie „die im Bart“nennen –, und sie leben extrem energiesparend, bewegen sich wenig, bleiben in stärksten Stürmen einfach stehen.
So kamen sie über endlose Zeiten mit der Natur zurecht, den Bedrohungen durch Menschen hingegen waren sie nicht gewachsen: Anno 1847 legten Walfänger in Alaska an und brachten als Tauschgüter auch Gewehre in Umlauf. Gegen die half die traditionelle Verteidigung der Moschusochsen nicht: Wenn Gefahr droht, bilden sie einen Kreis, in dessen Inneren die Jungen wohlbehütet sind. Dann wagt sich kein Wolfsrudel heran, die Männchen haben 1,50 Meter Schulterhöhe und bis zu 400 Kilo Gewicht, die Weibchen 1,30 bzw. 300, und beide haben so kräftige wie spitze Hörner.
Gegen Gewehre half das alles nichts, um 1890 waren die Moschusochsen in Alaska ausgerottet. Aber um 1930 siedelte man wieder welche an, sie kamen in einer Odyssee aus Grönland. Dort hatten sie sich gehalten, dort fingen Artenschützer Junge – nachdem sie die Alten abgeschossen hatten – und brachten sie nach Norwegen. Von dort wurden manche später per Schiff nach New York transportiert, per Eisenbahn nach Seattle und dann neuerlich per Schiff nach Alaska, es zog sich über Jahrzehnte, die letzten kamen 1981.
Aber die wieder Heimischen gediehen in verschiedenen Regionen ganz verschieden, das motivierte Berger zum Erkunden. Es war nicht leicht, er tat sich schwer mit Forschungsgeldern, er tat sich schwer mit den Inuit – sie schätzen Moschusochsen nicht, die können gefährlich werden, stehen aber unter Schutz –, und er tat sich schwer mit seiner eigenen Arbeit: Er stattete einzelne Tiere mit Peilsendern aus, aber dazu musste er sie erst einmal betäuben, mit Pfeilen, die per Blasrohr aus Helikoptern verschossen wurden. Die trafen nicht immer, und wenn sie trafen, hatten sie oft eine böse Nebenwirkung: Brach ein Mitglied einer Gruppe betäubt zusammen, zogen die anderen oft weiter, und wenn das eine nach einiger Zeit wieder erwachte, war es allein. Berger weiß nicht, wie viele er damit in Lebensgefahr gebracht hat, er formuliert es so: „Again a snafu – situation normal, all fucked up.“ Stress durch Forschung. Das konnte sich aufstufen: Manche der vereinsamten Tiere fanden Zuflucht in tiefen Löchern im Schnee, und als er dort auf eines stieß, rückte Berger ihm nahe, zu nahe, brachte es unter Stress. Er flucht – „Holy shit!“–, zieht sich zurück, kommt später wieder, es ist weg, hat seine sichere Bleibe aufgegeben. Berger kann gerade noch Kotproben sammeln, gefrorene diesmal. In denen wie den eingangs erwähnten will er Stresshormone messen, er wird es wohl auch getan haben, berichtet aber keine Befunde. Das ist das Defizit dieses Buchs, es nimmt eher mit auf die Abenteuer, die Feldforschung mit sich bringen kann. Die können umschlagen in Gro- tesken: Eine relativ neue Bedrohung für Moschusochsen sind Grizzlybären, die im Zuge des Klimawandels nach Norden wandern und relativ reiche Beute machen. Wie das? Wie reagieren Moschusochsen auf die neue Gefahr? Zusehen kann man Bären bei der Jagd nicht, deshalb verkleidete Berger sich als Bär und zu anderen Zeiten zur Kontrolle als Karibu. Dem schenkten die Tiere wenig Aufmerksamkeit, bei Bären hingegen konnte es für den Experimentator gefährlich werden, einmal ging ein Männchen zum Angriff über: „Wut und Macht sind unterwegs; er kommt rasch, er ist 30 Yard weg, 25, 20. Keine Zeit zum Denken. Kein Ort zum Flüchten. Ich bin nicht bereit für den Einschlag. Oh, fuck.“
Im letzten Moment hat er eine Idee, wirft das Bärenkostüm ab und hoch in die Luft, der Angreifer stockt, „er hat kein Ziel mehr“. Von solchen Abenteuern bringt Berger den Befund mit, dass Moschusochsen besser gewappnet
Als Walfänger Gewehre nach Alaska brachten, half die alte Verteidigung nicht. Die Erwärmung bringt neue Gefahren, von Grizzlybären bis zu Eisregen und Tsunamis.
sind, wenn Männchen in der Gruppe sind. Dann bauen sie die Wagenburg auf, dann attackieren einzelne. Bestehen Gruppen nur aus Weibchen und Jungen, wählen sie statt des Standhaltens Flucht, das macht sie verletzlicher.
Aber alle Männchen helfen nichts gegen noch eine neue Bedrohung, die der Erwärmung, die in der Arktis rascher voranschreitet als andernorts. Dann kann es schon einmal in den Schnee hineinregnen, und bei der nächsten Kälte gefriert alles so steinhart, dass selbst die Moschusochsen mit ihren kräftigen Hufen an kein Futter mehr kommen, ein solches Ereignis brachte 20.000 Tieren den Tod. Oder: Die Erwärmung kann mit Stürmen Tsunamis auslösen, in denen die Tiere in Meerwasser geraten und in ihm einfrieren, einer Herde von 50 ereilte 2011 so ein Schicksal.
Da brauchen die Verbleibenden nicht noch einen Feldforscher, der sie in Panik bringt: Berger hat sich zusehends auf Beobachtungen und Messungen zurückgezogen, mit denen er die Tiere nicht gefährdet.
Joel Berger, „Extreme Conservation. Life at the Edges of the World“, University of Chicago Press 2018.