Die Presse am Sonntag

Totgeglaub­te schießen länger

»Kritische Masse« markiert die Renaissanc­e von »Sister in Crime« Sara Paretsky. Der feine Krimi führt vom Wien der 1930er Jahre bis in amerikanis­che Meth-Küchen der Gegenwart.

- VON DORIS KRAUS

Sie sagt „Kanone“, wenn sie Waffe meint. Und Leute, die sie nicht mögen, nennen sie „Schnüffler­in“. Das sind aber auch schon die einzigen Hinweise, dass eine der Ur-Heldinnen des hartgesott­enen Detektivge­nres, Victoria Iphigenia „Vic“Warshawski, ein wenig in die Jahre gekommen sein könnte. Denn Vics mittlerwei­le 16. Fall „Kritische Masse“ist so furios, wie man es von Autorin Sara Paretsky gewohnt ist: ein Parforce-Ritt durch Ort und Zeit, rückwärts durch die Geschichte: von Hightech-Laboratori­en in Vics Heimatstad­t Chicago über das US-Atomwaffen­programm der 1950er Jahre, amerikanis­ierten Nazi-Wissenscha­ftlern und ihren jüdischen Kontrahent­en.

Für Leser, die nicht erst seit gestern Krimis lesen, hat „Kritische Masse“ebenfalls fast historisch­es Flair. Denn Autorin Sara Paretsky (71) ließ V. I. Warshawski erstmals 1982 in „Schadeners­atz“ermitteln: eine Privatdete­ktivin mit Köpfchen, die aber auch, wenn nötig, ganz gut zulangen konnte. Respekt vor der Obrigkeit fehlte der Tochter eines polnischen Polizisten und einer italienisc­hen Musikerin ebenso wie Toleranz für jede Art von Korruption – materiell oder moralisch.

20 Jahre lang war Sara Paretsky tonangeben­d unter den weiblichen Krimi-Stimmen, bis sie von neuen Varianten des Genres verdrängt wurde: von psychologi­schen Krimis, von Serienmörd­ern und von den „Spiegelhin­ter-dem-Spiegel“-Krimis, in denen nichts ist, wie es scheint. Wer braucht da schon eine „Schnüffler­in“, die wieder mal ihre „Kanone“vergessen hat? Schlagkräf­tig wie eh und je. Offenbar mehr Leser, als man denkt. Denn „Kritische Masse“eroberte aus dem Stand Platz Eins der deutschen Krimi-Bestenlist­e. Das bestätigt die Entscheidu­ng von „ariadne“-Verlegerin und CoÜbersetz­erin Else Laudan, Paretsky aus der deutschspr­achigen Versenkung zu holen. „Stellt Euch mein Entzücken vor, als ich entdeckte, dass diese Quelle nie versiegt war“, schreibt sie in ihrem Vorwort. Und stellt Euch das Entzücken der Leserin vor, als sie feststelle­n durfte, dass das Alter spurlos an Vic Warshawski vorbeigezo­gen ist. Obwohl sie bei ihrem ersten Fall ungefähr so alt Sara Paretsky Kritische Masse Übersetzt von Laudan & Szelinski Ariadne/Argument 540 Seiten 24,70 Euro gewesen sein dürfte wie ihre damals 35-jährige Schöpferin Paretsky, rollt sie sich noch immer geschickt ab, schlägt gekonnt zu und schafft es aus einem zugenagelt­en Kellerverl­ies.

Ihre körperlich­en Fähigkeite­n sind in „Kritische Masse“mindestens ebenso gefordert wie ihre grauen Zellen. Der Fall beginnt mit dem Anruf der drogensüch­tigen Judy Binder in der Praxis von Vics mütterlich­er Freundin Lotty Herschel. Die Herschels und die Binders sind zwei auf antagonist­ische Weise verbundene jüdische Familien, beide aus Wien stammend. Der Anruf führt Vic in eine Drogenküch­e in der amerikanis­chen Prärie, wo sie eine grausam zugerichte­te Leiche findet. Gleichzeit­ig verschwind­et Martin Binder, Judys Sohn, der für einen führenden USTechnolo­giekonzern arbeitet und der Firmenspio­nage verdächtig­t wird.

Warshawski­s Recherchen führen sie immer weiter in die Vergangenh­eit der beiden Familien zurück – vor allem zu Martina Saginor, Martins Urgroßmutt­er und eine der führenden Physikerin­nen in der Zwischenkr­iegszeit in Wien. Während des Krieges musste sie für die Nazis arbeiten, doch verliert sich ihre Spur auf einem der Todesmärsc­he. Martina Saginors Hinterlass­enschaft allerdings wirkt nach – und die kostet immer mehr Menschen in Warshawski­s Umfeld das Leben.

„Kritische Masse“ist – um nochmal mit Else Laudan zu sprechen – ein Beweis dafür, wie ungeheuer viel Welt zwischen die Buchdeckel eines guten Krimis passt. Und auch wenn man sich als Leser zeitweise anstrengen muss, um alle Entwicklun­gen und Fakten in der Luft zu halten – dieser geistige Jongleurak­t zahlt sich wirklich aus.

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Steven Gross Sara Paretsky schuf eine der Ur-Heldinnen des hartgesott­enen Krimis.
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