Die Presse am Sonntag

»Eliten bringen die Gesellscha­ft weiter«

»Man muss doch in der Lage sein, zu beurteilen, worin man gut ist und worin nicht«, sagt Franz Welser-Möst. Diese Fähigkeit zur Selbsterke­nntnis sei uns jedoch verloren gegangen, meint der österreich­ische Stardirige­nt. Jeder glaube, »er könne alles zu jed

- VON JUDITH HECHT

Es ist 8.30 Uhr. Um diese Uhrzeit war bisher noch kein Künstler für ein Interview zu haben. Franz Welser-Möst: Wir hätten uns auch um sechs Uhr treffen können. Demnach sind Sie ein Early Bird. Ja! Im Winter stehe ich erst um sechs auf, im Sommer meistens um vier Uhr. Und wie beginnen Sie Ihren Tag? Unterschie­dlich. Wenn ich im Sommer Proben in Salzburg habe, bereite ich mich darauf vor. Das heißt, vorher gehe ich noch schwimmen. Sie sind sicher jemand, der ritualisie­rte Tagesabläu­fe hat. Stimmt. Rituale sind etwas Wichtiges: Mein tägliches Yoga, Frühstück mit meiner Frau, und dann bereite ich mich auf das vor, was ich an dem Tag zu tun habe. Allerdings gibt es eine Regel. Wenn ich am Abend eine Vorführung habe, tue ich am Nachmittag nichts. Ich lege mich nur eine Stunde hin, lese ein bisschen oder gehe spazieren. Merken Sie, dass Sie manches heute mehr anstrengt als früher? Das ist so. Mit 40 stemmt man Wagners „Ring“noch locker, jetzt, mit 58 Jahren, müsste ich schon genau schauen, dass ich davor und danach genügend Ruhezeiten habe. Seit ein paar Jahren habe ich mir auch angewöhnt, nicht sofort weiterzuar­beiten, wenn ich aus den USA nach Europa komme. Das Alter erfordert Rücksichtn­ahme. Ich schaue auf mich. Ich mache Yoga, achte auf meine Ernährung und habe immer wieder meine Thai-Massagen. Abgesehen vom Fitness-Aspekt, hat Yoga für Sie auch eine spirituell­e Facette? Insofern, als es eine Zeit ist, die nur mir gehört. Die ist rar. Ein ehemaliger Assistent von mir bekam auch einen Chefposten bei einem Orchester. Kürzlich besuchte er mich in Cleveland und sagte: „Du hast mich nicht davor gewarnt, dass Chefsein nur zehn Prozent Musik und der Rest alles mögliche ist.“ Hat er recht damit? Ja. In den USA ist Chefsein eine sehr intensive Angelegenh­eit. Dauernd wollen Leute etwas von einem, daher ist es so wichtig, sich auch einmal nur um sich selbst zu kümmern. Zehn Prozent Musik ist eine dürftige Ausbeute, bedenkt man, dass ein Musikchef ja primär Musik machen will. Sehr wenig. Unsere Zeit hat sich so verändert. Nicht nur bei uns ist das Image wichtiger als der Inhalt. Marketing macht so viel aus. Und die wirtschaft­liche und rechtliche Seite ist schwierige­r geworden. Denken Sie an die MeToo-Bewegung. Wie hat sich diese Bewegung für Sie bemerkbar gemacht? Wir mussten unseren Konzertmei­ster und unseren Soloposaun­isten kündigen. Zuvor gab es einen mehrmonati­gen, aufwendige­n Untersuchu­ngsprozess. Vor 20 Jahren war man mit solchen Fragen noch nicht beschäftig­t. Heute ist einfach alles komplizier­ter. Als Sie das Cleveland-Orchester 2002 als Chefdirige­nt übernahmen, wussten Sie da, was auf Sie zukommen würde? Nein, das ist ja eines der Probleme. Im Zuge der Ausbildung an der Uni sagt Ihnen kein Mensch irgendetwa­s über Menschenfü­hrung. Was von Dirigenten in einer Führungspo­sition verlangt wird, erfährt man nicht. Für mich war der Anfang in Cleveland ein steiler Lernprozes­s, noch dazu ist das System

Franz Welser-Möst

wurde 1960 in Linz geboren. Er studierte Violine, konzentrie­rte sich aber nach einem Autounfall ganz aufs Dirigenten­fach.

Wiener Staatsoper

An der war er von 2010 bis 2014 Generalmus­ikdirektor.

Cleveland Orchestra

Das leitet er seit 2002 als Chefdirige­nt. Es zählt zu den besten fünf Orchestern der Welt.

Salzburger Festspiele­n

Bei den

ist er regelmäßig zu Gast. 2018 dirigierte er dort „Salome“von Richard Strauss, die von Publikum und Kritikern gefeiert wurde.

Im Wiener Konzerthau­s

ist Welser-Möst wieder am 11. und 12. Mai mit Gustav Mahlers achter Symphonie zu sehen und zu hören. in den USA ein ganz anderes. Teilweise auch eines, das Europäer als ein wenig befremdlic­h empfinden. Natürlich. Diese MeToo-Bewegung ist nur ein Beispiel dafür, wie stark dieses Land auseinande­rklafft. Da werden Orchesterm­usiker gefeuert – und gleichzeit­ig sitzt im Weißen Haus ein Mann, der Frauen verachtet. Können Sie das begreifen? Das kann man nicht begreifen, dazu gibt es zu viele Irrational­itäten. Trump spricht ja dauernd von den Karawanen, die an der mexikanisc­hen Grenze Amerika bedrohen. Das Absurde ist, dass sich jene Menschen am meisten bedroht fühlen, die von dort am weitesten weg sind. Mich macht es sehr betroffen, dass es in den USA zu einer derartigen Desensibil­isierung gekommen ist, die mit der Sprache angefangen hat. Wie merken Sie das? Trumps Wortschatz entspricht dem eine Viertklass­lers. Man muss sich fragen, was das bedeutet. Was bedeutet das? Er denunziert Menschen öffentlich in derbster Weise. Das bewirkt, dass sich Millionen von Menschen denken: „Wenn der Präsident so redet, dann kann ich das auch. Der Nachbar soll nur nicht wissen, dass ich das gesagt habe.“Das ist auch die Crux von Social Media. Jeder kotzt sich dort aus, und zwar anonym. In einer Demokratie gibt es Rechte, aber auch Pflichten. Jeder hat das Recht, sich frei zu äußern, aber jeder sollte auch das Recht haben, zu wissen, wer sich äußert. Darüber habe ich einmal mit Wolfgang Schüssel gesprochen, und er teilte meine Meinung nicht. „Wir wollen doch nicht China werden“, sagte er. Aber das hat damit nichts zu tun, sondern mit Verantwor- tungsbewus­stsein, dass wir das Recht auf freie Meinungsäu­ßerung so wahrnehmen, dass der andere auch weiß, wer ich bin. Denunziati­on war immer ein Mittel von nicht demokratis­chen Bewegungen. Da wird es gefährlich, und es besteht die Gefahr, dass die Demokratie ausgehöhlt wird. Und noch einen Aspekt gibt es. Bitte welchen? Wir haben – vor allem in Europa – eine Zeit, in der sehr stark auf die Elite geschimpft wird. Nur: Eine Gesellscha­ft kommt ohne Eliten nicht aus. Welche Funktion haben Eliten in einer Gesellscha­ft? Sie weiterzubr­ingen. Sie erwecken ein Feuer. Denken Sie an Marcel Hirscher. Wie viele junge Leute wollen nun auch so werden wie er. Und als ich das erste Mal Herbert von Karajan erlebt hatte, wusste ich: „Da will ich auch hin. Was muss ich dazu tun?“Mit dieser Frage wird man zum Suchenden und Kämpfenden. Denn dafür gibt es kein Regelbuch. Den Weg muss man schon in sich selbst finden. Oder denken Sie an einen elitären Wissenscha­ftler, der wirklich etwas entdeckt: Er bringt die ganze Gesellscha­ft weiter. Das heißt nicht, dass er ein besserer Mensch ist. Selbstvers­tändlich verdient jeder gleichen Respekt, ob er zur Elite zählt oder nicht. Das heißt aber nicht, dass wir nicht unterschie­dliche Aufgaben wahrnehmen sollen. Ich würde mir nie zutrauen, amerikanis­cher Präsident zu werden, das könnte ich nicht. Wobei: Trump kann es auch nicht, er glaubt es nur. Diese Selbsterke­nntnis ist uns heute verloren gegangen. Dieser Glaube: „Jeder kann alles zu jeder Zeit“– Entschuldi­gung, dafür sind wir nicht gebaut. Man muss doch in der Lage sein, zu beurteilen, worin man gut ist und worin nicht. . . . ob Ihnen der Musikbetri­eb so viel Zeit zur Vorbereitu­ng gibt, wie Sie haben wollen? Ich nehme sie mir. Ich kann und will nicht einfach nur absolviere­n. Viele Sänger sind sehr froh darüber, wenn man sich schon zwei Jahre vor der Premiere für sie Zeit nimmt. So gelingt es, in die Tiefe zu gehen. Tiefgang ist nur möglich, wenn man sich echt Zeit für eine Sache nimmt. Darum sage ich jungen Musikern oft: Ihr müsst euch entscheide­n, ob ihr Karriere machen oder Suchende werden wollt. Letzteres ist schwierige­r, aber wesentlich erfüllende­r – und ein ständiges Schwimmen gegen den Strom. . . . ob Sie Beispiele für suchende Musiker haben, die Karriere gemacht haben? (Zeigt auf sich.) Aber auch unter den Jungen gibt es Beispiele wie Daniil Trifonow, das Hagen Quartett, Asmik Grigorian oder Igor Levit. Mit ihnen können Sie über Goethe und Politik sprechen. Da geht es nicht um die Frage, ob man mit den Noten zusammenko­mmt. Moment, das ist ein Unterschie­d. Jeder kann alles erreichen, aber nicht jeder kann alles. Der Traum ist, man kommt ohne Geld in das Land und wird schlussend­lich ein Immobilien­mogul. Aber wir leben in einer Zeit, in der jeder glaubt, von allem etwas zu verstehen, und das stimmt einfach nicht. Sie sagten erst, Image zähle mehr als Inhalt. Merken Sie das auch in Ihrem Bereich? Natürlich. Reden Sie einmal mit den Wiener Philharmon­ikern. Neulich sagte einer zu mir: „Was wir an dir schätzen, ist, dass du jedes Mal zu den Stücken noch mehr als andere zu sagen hast.“Ich nehme mir eben die Zeit, mich wirklich eingehend damit zu beschäftig­en. Manchmal habe ich das Gefühl, das überforder­t dann schon viele Ihrer Kollegen. Wie meinen Sie das? Viele von Ihnen sind doch nur mehr auf Wikipedia unterwegs, aber das ist kein historisch­es Archiv. Wikipedia schreiben Leute, die es sicher gut meinen, aber die keine Fachleute sind. Schauen Sie doch, was Kritiker über Konzerte schreiben. Ob die Solistin X barfuß spielt oder jemand rote Schnürsenk­el in den Schuhen hat. Das sind die großen Aufmacher in Konzertkri­tiken. Aber all das hat mit Musik überhaupt nichts zu tun. Im Sommer bin ich mit meiner Frau am Festspielh­aus in Salzburg vorbeigega­ngen. Auf den Plakaten sah man einen schönen Menschen nach dem anderen strahlen. Ich sagte zu ihr: „Alfred Brendel hätte heute keine Chance mehr.“Denn es geht nur mehr um die Erscheinun­g. Ich empfinde es so, dass die heutige Zeit für all jene, die ihre Sache ernst nehmen, sie mit Hingabe und Freude machen, eine sehr schwierige ist.

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Clemens Fabry Franz Welser-Möst: „Alfred Brendel hätte heute keine Chance mehr.“
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Aber gerade in den USA gilt doch das Dogma: Jeder kann alles erreichen.
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