»Das war blanker Populismus in Wien«
FDP-Chef Christian Lindner erklärt im Interview, warum er größere Gelbwesten-Proteste auch in Deutschland für möglich hält, die neue CDU-Chefin keine »Mini-Merkel« ist und er die türkis-blaue Regierung sehr kritisch sieht.
Die Ära von Kanzlerin Angela Merkel neigt sich dem Ende zu. Was hat Ihnen an den bisherigen Merkel-Jahren gefallen? Christian Lindner: Frau Merkel hat es verstanden, in Krisen und in Zeiten des Wandels zu beruhigen. Doch zu oft war der Preis für diese Ruhe Stillstand. Die Lebendigkeit der politischen Debatte, die von Unterschieden lebt, blieb oftmals auf der Strecke. International wird Angela Merkel mitunter als Anführerin der freien Welt porträtiert, als Verteidigerin der unter Druck geratenen liberalen Demokratie. Werden gerade Sie als Liberaler Merkel am Ende noch vermissen? Sie folgt Werten wie Multilateralismus, Liberalität und Weltoffenheit, die wir teilen. Zu einer ehrlichen Bilanz gehört aber auch, dass Europa so gespalten ist wie kaum zuvor. Das hängt nicht nur, aber auch mit deutschen Alleingängen zusammen. Eine gesinnungsethische Politik der offenen Grenzen hat Deutschland isoliert, in der Energiepolitik und in finanzpolitischen Fragen steht Deutschland ebenfalls allein. Das relativiert dann auch den Einsatz von Frau Merkel für Multilateralismus. Und es führt zu einer Gemeinsamkeit zwischen Ihnen und Kanzler Sebastian Kurz: Sie haben beide 2017 auch deshalb Wahlerfolge gefeiert, weil Sie sich gegen Merkels Flüchtlingspolitik positioniert haben. Ich kenne Sebastian Kurz schon länger und habe ein positives Bild von ihm als Person. Ich teile auch sein Ziel, Migration zu begrenzen, aber nicht sein Bild der Gesellschaft als einem Klub, der christliche Weihnachtslieder singt, Sauerkraut isst und Mozart-Opern hört. Wir sind da liberaler und vielfältiger. Und ich bedaure, dass sich sein Erfolg auf einer Partei wie der FPÖ abstützt. In Österreich sind, angetrieben von der FPÖ, Einschüchterungsversuche gegenüber der Presse, raubauziges Auftreten in der Öffentlichkeit und das Schüren von Ressentiments gegenüber Minderheiten zu beobachten. Das halte ich für unvereinbar mit einer christdemokratischen Politik. Und das Nein zum Migrationspakt bedaure ich sehr. Einer Umfrage zufolge war eine relative Mehrheit der Österreicher gegen den Pakt. Aber das Nein war blanker Populismus. Wer Migration steuern und begrenzen will, braucht internationale Zusammenarbeit. Der Migrationspakt ist sicher in vielem verbesserungswürdig. Aber ihn zu haben ist besser, als ihn nicht zu haben. In diesem Fall wäre Leadership nötig gewesen, also zu sagen: „Das sind die Fakten, lasst euch nicht durch irgendwelche WhatsAppKampagnen oder Facebook-Videos in die Defensive bringen!“ Die Neos, Ihre Schwesterpartei in Wien, machen auch mit der Vision der „Vereinigten Staaten von Europa“Wahlkampf. Ihre EUSpitzenkandidatin, Nicola Beer, tat das als „pathetische Idee“ab. Wie sehen Sie das? Die Vereinigten Staaten von Europa stehen auch in unserem Grundsatzprogramm. Ich persönlich bin da etwas zurückhaltender. Das Europäische an Europa ist die Idee der Vielfalt, nicht Gleichmacherei. Wir sollten uns zunächst darauf konzentrieren, dass die EU in ihrer jetzigen Verfasstheit gut funktioniert. Was muss sich ändern? Wir brauchen die Integration der Verteidigungsfähigkeit unter dem Dach der Nato, einen digitalen Binnenmarkt, eine gemeinsame europäische Energiepolitik, die Kontrolle der Außengrenzen, ein europäisches Asylsystem und ein Europa, das in der Außenpolitik mit einer Stimme spricht. Europas Liberale könnten bei der EU-Wahl leicht zulegen, Ihr großer Hoffnungsträger aber, Emmanuel Macron, scheint entzaubert. Ich halte ihn nicht für entzaubert. Die Überhöhung zu Beginn weicht nur einer realistischen Wahrnehmung. Die Pointe ist: Als deutsche Medien und die politische Linke Macron feierten, hatten wir auch kritische Punkte gesehen, zum Beispiel seine Ideen zur Vergemeinschaftung von Risken in der Wirtschafts- und Währungsunion. Jetzt schreiben ihn viele ab. Mich dagegen beeindrucken nach wie vor seine Tatkraft und sein Veränderungswillen. Könnte es eine größere Gelbwesten-Bewegung wie in Frankreich auch in Deutschland geben? Ich halte das nicht für ausgeschlossen. Deutschland ist sehr duldsam. Die Franzosen haben seit der Revolution das Gen des Aufbegehrens in sich. Aber das heißt nicht, dass in Deutschland nicht eine ähnliche Bewegung aus der bürgerlichen Mitte entstehen könnte. Und aus welchem Anlass? Eine wachsende Mehrheit erkennt, dass sich die Politik vor allem mit Dieselfahrverboten, Bürokratieaufbau und Umverteilung beschäftigt. Es geht im Diskurs meist um Flüchtlinge, Superreiche oder Hartz-IV-Empfänger. Aber dazwischen gibt es eine Mehrheit der Menschen, die sich um den Zustand der Schule sorgen, ihren legitimen Traum einer eigenen Wohnung verwirklichen wollen und die möchten, dass das Internet funktioniert. Sie wollen ein Land, das kulturelle Vielfalt garantiert, aber keine Toleranz gegenüber Intoleranz übt. Diese Menschen finden sich in der Politik nicht wieder. Sie haben stets gesagt, Aufbruch könne es in Deutschland nur nach Merkel geben. Nun wird Merkels Nachfolgerin als CDU-Chefin, Annegret Kramp-Karrenbauer, zuweilen als „Mini-Merkel“porträtiert. Zu Unrecht? Ja. Das sind überhebliche Äußerungen von Machos, die in den Siebzigern stehen geblieben sind. Frau Kramp-Karrenbauer besitzt ein eigenes Profil. Sie tritt in gesellschaftspolitischen Fragen sehr konservativ auf und in Wirtschaftsfragen sehr staatsorientiert. Der Ex-Vize-FDP-Chef Rainer Brüderle nannte sie einmal eine „schwarz lackierte Sozialistin“. War das auch ein Machospruch? Ich weiß, was er mit dieser alten Zuspitzung gemeint hat, weil man in den Archiven unzählige Vorschläge für Steuererhöhungen und Eingriffe in die Vertragsfreiheit findet. Ich ziehe einen anderen Vergleich: Es gab einmal eine Zentrumspartei, das war eine katholisch-konservative Arbeiterpartei. Ich habe Frau Kramp-Karrenbauer einmal scherzhaft als Zentrumspolitikerin bezeichnet. Aber etwas anderes ist bei ihr wichtiger. Und zwar? Sie ist bereit zu neuem Denken, und ich traue ihr zu, dass sie eines Tages eine faire Zusammenarbeit begründen will, mit wem auch immer. Vielleicht mit der FDP. Ist ein neuer Anlauf für eine Jamaika-Regierung aus CDU/CSU, Grünen und FDP für Sie denkbar? Wir sind jederzeit gesprächsbereit. Vor oder nach einer nächsten Wahl. Aber zu den alten Bedingungen. Wie wahrscheinlich ist ein fliegender Wechsel von Schwarz-Rot auf Jamaika noch in dieser Legislaturperiode? Fünf Prozent vielleicht. Ich rechne eher damit, dass die Koalition bis 2021 weitermachen wird. Die Zustimmung zur Großen Koalition schrumpfte in den Umfragen massiv. Die Grünen erleben seither einen Höhenflug. Die FDP profitierte überhaupt nicht. Warum? Man kann nicht über die Grünen reden und zur Schwäche der SPD schweigen. Grüne und SPD kommen zusammen auf Prozentzahlen, die früher Gerhard Schröder für die SPD allein erreichte. Trotzdem: Die FDP tritt in Umfragen auf der Stelle. Das hat wohl auch mit der Nacht des 20. November 2017 zu tun, als Sie die Jamaika-Gespräche platzen ließen. Meine Geschichte ist eine ganz andere: Obwohl die FDP teilweise gegen den Mainstream stehen will, obwohl wir teilweise angefeindet werden, weil wir nicht der nützliche Mehrheitsbeschaffer für Schwarz-Grün sein wollten, sind
Christian Lindner (40)
hat die FDP nach vier Jahren außerparlamentarischer Opposition 2017 mit 10,7 Prozent wieder in den Bundestag geführt und kurz darauf Verhandlungen über eine JamaikaKoalition mit CDU, CSU und Grünen platzen lassen. In den jüngsten Umfragen liegt die FDP zwischen sieben und zehn Prozent, die Grünen liegen zwischen 18 und 20 Prozent. Der Ex-FDP-Generalsekretär übernahm die FDP 2013 als Parteichef. wir so stabil wie niemals zuvor in unserer Geschichte. Stichwort Mainstream: Sie haben einmal gesagt, es gebe unter Journalisten „einen Mainstream, der eine Nähe zu linken Positionen hat“. Woran machen Sie das fest? Zum Beispiel an Zahlen des ZDF, wonach die Grünen als kleinste Oppositionspartei in den Nachrichtensendungen „Heute“und „Heute Journal“wesentlich häufiger vorkamen als die AfD, die stärkste Oppositionspartei ist. Am wenigsten wurden wir gesendet, nur halb so oft wie die Grünen, obwohl wir zweitstärkste Oppositionspartei sind. Wobei Sie 2018 der zweithäufigste Gast in politischen Talkshows waren. Das stimmt. Ich kann persönlich nicht klagen. Dennoch haben auch hier die Grünen überproportional viel Sendefläche bekommen. Was Sie immer wieder beklagen, ist eine Verrohung der Sprache, Sie selbst werfen den Grünen „Fake News“vor und nennen Sie „Klima-Nationalisten“. Das ist doch noch vornehm. Klima-Nationalismus heißt, dass man aus ideologischen Gründen teure Maßnahmen für den Klimaschutz vorantreibt, die Arbeitsplätze gefährden, ohne dass es positive Auswirkungen auf das Weltklima hätte, weil die bei uns eingesparten Tonnen CO2 aufgrund der europäischen Regeln zusätzlich in Polen verfeuert werden dürfen. Also lieber gar kein Klimaschutz? Doch, wir wollen Milliarden deutsches Geld nutzen, um Regenwald zu schützen oder in Afrika Kraftwerke sauberer zu machen. Das würde weltweit wirklich CO2 einsparen. Vor allem brauchen wir einen funktionierenden Emmissionshandel, der CO2 einen Preis gibt. Es wird dann überall dort eingespart, wo es am effektivsten ist. Wir sind Klima-Globalisten. Von den Grünen werden wir dafür aber verlacht. In Wahrheit geht es ihnen nicht um CO2Einsparungen, sondern um eine Veränderung der Art, wie wir leben und arbeiten sollen.