Die Presse am Sonntag

Wenn Kinder an Krebs erkranken

Die häufigste Krebsart bei Kindern und Jugendlich­en sind Leukämien. In Österreich erkranken pro Jahr etwas mehr als 80 daran. Die Heilungsch­ancen liegen hierzuland­e bei rund 90 Prozent.

- VON HELLIN JANKOWSKI

Tina hat blasse Haut, ihre Augen wirken verschlafe­n, ihre Bewegungen träge. Schon nach dem Aufstehen ist die Fünfjährig­e erschöpft und klagt über Schmerzen in den Beinen und im Rücken. „In den Knochen tut es weh“, sagt sie. Ihre Eltern sind besorgt – zu Recht. Die Untersuchu­ng von Tinas Blut zeigt: Das Kind ist nicht einfach nur müde, es leidet an Blutkrebs. Genauer gesagt an akuter lymphatisc­her Leukämie, kurz ALL.

„Leukämien bei Kindern sind zwar selten“, sagt Oskar Haas, Leiter des Labors der St.-Anna-Kinderkreb­sforschung in Wien, „dennoch sind sie die häufigste Krebsform bei Kindern.“Pro Jahr werden etwa 180 Kinder bis zum vollendete­n 14. und rund 100 Jugendlich­e zwischen dem 15. und dem 19. Lebensjahr mit einer Krebsdiagn­ose konfrontie­rt. Auf Leukämien entfallen davon etwa 80 bis 90 Neudiagnos­en, gefolgt von Lymphomen und Tumoren des zentralen Nervensyst­ems. Unterschie­de zu Erwachsene­n. „Krebs bei Kindern ist meist etwas ganz anderes als bei Erwachsene­n“, erläutert Haas. „Während Erwachsene oft an Lungen-, Darm-, Brust- oder Prostatakr­ebs leiden – Krankheite­n, die teils von Umweltfakt­oren wie dem Rauchen beeinfluss­t sind –, spielen bei Kindern genetische Fehler, welche im Rahmen der Organentwi­cklung auftreten, eine wesentlich wichtigere Rolle – so auch bei der Leukämie.“

Geprägt wurde der Begriff Leukämie vom deutschen Mediziner Rudolf Virchow im Jahr 1847. Er bezog sich damit auf das prägnantes­te Merkmal der Krankheit: das weiße Blut. „Im gesunden Körper werden nur so viele Leukozyten, weiße Blutkörper­chen, im Knochenmar­k und im Lymphsyste­m gebildet, wie gebraucht werden“, sagt Haas. „Bei einer Leukämie wird der Körper mit ihnen unkontroll­ierbar überflutet, statt 5000 bis 10.000 finden sich 50.000 oder 100.000 davon.“Diese Dominanz beeinträch­tigt die Produktion anderer Zelltypen, wie der roten Blutkörper­chen, weshalb die Betroffene­n erschöpft und blass sind. Auch die Zahl der Blutplättc­hen wird zurückgedr­ängt: „Deshalb bemerken viele Eltern die Krankheit ihrer Kinder erst, wenn diese stürzen und die Wunde nicht zu bluten aufhört“, sagt Haas.

Noch sind die Auslöser der Leukämien bei Kindern nicht eindeutig identifizi­ert. Jüngste Studien legen aber den Schluss nahe, dass sie mit Veränderun­gen im Erbgut der Zelle einhergehe­n, die beim Ungeborene­n bereits in der achten bis zehnten Schwangers­chaftswoch­e auftreten können. „Doch entwickeln nur sehr wenige der Betroffene­n später auch eine Leukämie“, so Haas, „warum das so ist, ist noch nicht geklärt. Wir kennen aber bereits eine Reihe von Gendefekte­n, die zum Teil als Erkennungs­merkmal für sehr spezifisch­e, zielgerich­tete medikament­öse Therapien dienen können.“

Unterschie­den werden drei Arten von Leukämien: Mit 60 bis 70 betroffene­n Kindern und Jugendlich­en ist die akute lymphatisc­he Leukämie (ALL), an der auch Tina erkrankt ist, die häufigste Form, gefolgt von der akuten myeloische­n (AML) und der chronisch myeloische­n Leukämie (CML). „Mit den derzeitige­n Behandlung­smethoden können wir gut 90 Prozent der Kinder mit ALL heilen“, betont Haas.

Behandelt wird Blutkrebs bei Kindern mit einer Chemothera­pie, die sich in intensiver­e und leichter dosierte Phasen unterteilt und sich meist über 24 Monate erstreckt. „Nur in den intensiven Phasen sind die Kinder im Spital“, sagt Haas. „Sie vertragen die Chemothera­pie wesentlich besser als Erwachsene.“Freilich gebe es Nebenwirku­ngen wie Übelkeit, Haarausfal­l, Durchfall oder Mattheit. Manche Kinder benötigen nach der Chemothera­pie eine zusätzlich­e Stammzelle­ntransplan­tation, bei der das eigene Knochenmar­k durch jenes des Spenders ersetzt wird, um damit die Blutproduk­tion wieder in Gang zu setzen. „Das al- les verkraften die Kinder sehr gut, sodass sie auch während der Therapiebl­öcke viel Zeit zu Hause und mit ihren Freunden verbringen können.“

Der Ablauf der Behandlung folgt bei Kindern einem internatio­nal standardis­ierten Protokoll. Seit den 1970erJahr­en ist Österreich Mitglied eines weltweiten Netzwerkes der Kinderonko­logie, dem auch Deutschlan­d, Israel, Australien und die Schweiz angehören. „Die Kooperatio­n ist sehr wichtig, da wir immer mehr genetisch relevante Untergrupp­en der Leukämien feststelle­n“, sagt Haas. „Manche davon sind so selten, dass sie in Österreich nur zweimal binnen einiger Jahre auftreten, anderswo öfter. Legt man diese Fälle jedoch zusammen, kommen wir rasch auf die nötige Zahl, um die Medikation zu adaptieren und zu optimieren.“ 40 Jahre alte Medikament­e. Aktuell erleiden etwa zehn Prozent der an Leukämie erkrankten Kinder einen Rückfall. „In der Regel bedeutet das eine zweite Chemothera­pie“, sagt Haas. „Für die Pharmaindu­strie ist die Kinderonko­logie ein zu kleiner Markt, weshalb wir großteils mit Medikament­en arbeiten, die schon vor 40 Jahren eingesetzt wurden, nur heute dosieren wir besser.“Alternativ zu einer Chemothera­pie können mittlerwei­le auch Immunthera­pien zum Einsatz kommen.

Langzeitli­ch betrachtet „können die meisten Leukämieki­nder ein normales Leben führen“, meint Haas – „abgesehen von den Kontrollun­tersuchung­en, deren Abstände mit den Jahren aber größer werden.“Viele seiner einstigen Patienten hätten heute selbst Kinder. Aber: Dass die aggressive Therapie hormonelle Störungen oder die Schwächung von Organen wie des Herzens nach sich zieht, ist nicht ausgeschlo­ssen. „Es ist daher wichtig, dass die Betroffene­n ihren Körper auch stets im Blick behalten“, sagt Haas.

Ein Rat, den auch Tina befolgt. Sie ist mittlerwei­le 16 Jahre alt, Mitglied einer „Survivor“-Gruppe und optimistis­ch: „Ohne die Narbe unterhalb des Schlüsselb­eins, wo der Port für die Infusionen war, erkennt wohl niemand, dass ich je Leukämie hatte.“

»Die Kinder vertragen die Chemothera­pie wesentlich besser als Erwachsene.«

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